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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
der ihn besuchte, und Rousseaus Waldmensch mehr als
der polizirte.

Wäre Unempfindlichkeit und Mangel an regen Trieben
ohne Bedürfniß und ohne Gefühl derselben, das Maß
der Glückseligkeit: was verdienen die Freunde der Mensch-
heit, die an ihrer Kultur arbeiten, und was hat selbst
Herr Rousseau verdienet, der durch seine Deklama-
tion gegen die Kenntnisse und Entwickelung etwas bey-
getragen hat, dieß Uebel zu vergrößern. Anders ist es
freylich, wenn man mehr in die Jdee von Zufriedenheit
hineinleget, und nicht bloß die Abwesenheit unbefriedigter
Neigungen, sondern die völlige Sättigung wirksamer
Triebe im Sinne hat, mit der daraus entspringenden
stärkern Reizbarkeit gegen alle angenehme Eindrücke von
außen, die Haller mit den Worten beschreibet:

Wär unser Herz von Sorgen leer,
So würde bald ein Wollustmeer
Aus jedem Hügel in uns fließen.

Jst aber dieß letztere die Zufriedenheit der Thiere, der
Kinder, der Wilden, und aller derer, deren Geisteskräfte
in Unwissenheit schlummern? Bey dem entwickelten Men-
schen sind freylich die Augenblicke einer uneingeschränk-
ten
Befriedigung sehr selten. Die innere Thätigkeit
erzeuget aus sich selbst neue Begierden, so bald die vorher-
gehende gestillet ist. Je mehr er Vorstellungen und Ge-
danken zusammenhäufet, desto weniger kann es an un-
angenehmen Erinnerungen oder an traurigen Vorher-
sehungen fehlen, die sich den Gefühlen beymischen, und
ihnen zum mindesten einen Anstrich vom Unangeneh-
men geben. Allein deswegen können diese doch nur un-
erhebliche Dissonanzen seyn, die das Gefühl der Har-
monie erhöhen. Und gesetzt, daß sie auch mehr sind,
wie sies nur zu oft sind: so bleibet noch Uebergewicht
des Vergnügens genug da, um selbst den Augenblick,

in
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und Entwickelung des Menſchen.
der ihn beſuchte, und Rouſſeaus Waldmenſch mehr als
der polizirte.

Waͤre Unempfindlichkeit und Mangel an regen Trieben
ohne Beduͤrfniß und ohne Gefuͤhl derſelben, das Maß
der Gluͤckſeligkeit: was verdienen die Freunde der Menſch-
heit, die an ihrer Kultur arbeiten, und was hat ſelbſt
Herr Rouſſeau verdienet, der durch ſeine Deklama-
tion gegen die Kenntniſſe und Entwickelung etwas bey-
getragen hat, dieß Uebel zu vergroͤßern. Anders iſt es
freylich, wenn man mehr in die Jdee von Zufriedenheit
hineinleget, und nicht bloß die Abweſenheit unbefriedigter
Neigungen, ſondern die voͤllige Saͤttigung wirkſamer
Triebe im Sinne hat, mit der daraus entſpringenden
ſtaͤrkern Reizbarkeit gegen alle angenehme Eindruͤcke von
außen, die Haller mit den Worten beſchreibet:

Waͤr unſer Herz von Sorgen leer,
So wuͤrde bald ein Wolluſtmeer
Aus jedem Huͤgel in uns fließen.

Jſt aber dieß letztere die Zufriedenheit der Thiere, der
Kinder, der Wilden, und aller derer, deren Geiſteskraͤfte
in Unwiſſenheit ſchlummern? Bey dem entwickelten Men-
ſchen ſind freylich die Augenblicke einer uneingeſchraͤnk-
ten
Befriedigung ſehr ſelten. Die innere Thaͤtigkeit
erzeuget aus ſich ſelbſt neue Begierden, ſo bald die vorher-
gehende geſtillet iſt. Je mehr er Vorſtellungen und Ge-
danken zuſammenhaͤufet, deſto weniger kann es an un-
angenehmen Erinnerungen oder an traurigen Vorher-
ſehungen fehlen, die ſich den Gefuͤhlen beymiſchen, und
ihnen zum mindeſten einen Anſtrich vom Unangeneh-
men geben. Allein deswegen koͤnnen dieſe doch nur un-
erhebliche Diſſonanzen ſeyn, die das Gefuͤhl der Har-
monie erhoͤhen. Und geſetzt, daß ſie auch mehr ſind,
wie ſies nur zu oft ſind: ſo bleibet noch Uebergewicht
des Vergnuͤgens genug da, um ſelbſt den Augenblick,

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[793/0823] und Entwickelung des Menſchen. der ihn beſuchte, und Rouſſeaus Waldmenſch mehr als der polizirte. Waͤre Unempfindlichkeit und Mangel an regen Trieben ohne Beduͤrfniß und ohne Gefuͤhl derſelben, das Maß der Gluͤckſeligkeit: was verdienen die Freunde der Menſch- heit, die an ihrer Kultur arbeiten, und was hat ſelbſt Herr Rouſſeau verdienet, der durch ſeine Deklama- tion gegen die Kenntniſſe und Entwickelung etwas bey- getragen hat, dieß Uebel zu vergroͤßern. Anders iſt es freylich, wenn man mehr in die Jdee von Zufriedenheit hineinleget, und nicht bloß die Abweſenheit unbefriedigter Neigungen, ſondern die voͤllige Saͤttigung wirkſamer Triebe im Sinne hat, mit der daraus entſpringenden ſtaͤrkern Reizbarkeit gegen alle angenehme Eindruͤcke von außen, die Haller mit den Worten beſchreibet: Waͤr unſer Herz von Sorgen leer, So wuͤrde bald ein Wolluſtmeer Aus jedem Huͤgel in uns fließen. Jſt aber dieß letztere die Zufriedenheit der Thiere, der Kinder, der Wilden, und aller derer, deren Geiſteskraͤfte in Unwiſſenheit ſchlummern? Bey dem entwickelten Men- ſchen ſind freylich die Augenblicke einer uneingeſchraͤnk- ten Befriedigung ſehr ſelten. Die innere Thaͤtigkeit erzeuget aus ſich ſelbſt neue Begierden, ſo bald die vorher- gehende geſtillet iſt. Je mehr er Vorſtellungen und Ge- danken zuſammenhaͤufet, deſto weniger kann es an un- angenehmen Erinnerungen oder an traurigen Vorher- ſehungen fehlen, die ſich den Gefuͤhlen beymiſchen, und ihnen zum mindeſten einen Anſtrich vom Unangeneh- men geben. Allein deswegen koͤnnen dieſe doch nur un- erhebliche Diſſonanzen ſeyn, die das Gefuͤhl der Har- monie erhoͤhen. Und geſetzt, daß ſie auch mehr ſind, wie ſies nur zu oft ſind: ſo bleibet noch Uebergewicht des Vergnuͤgens genug da, um ſelbſt den Augenblick, in D d d 5

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 793. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/823>, abgerufen am 24.11.2024.