vollkommnen und zu beglücken sind! Es hat Europa, wie Herr Jselin richtig bemerket, seinen gesitteten Zustand wenigen erleuchteten Einwohnern zu danken, die nicht den hundertsten, wer weiß welchen geringen, Theil al- ler Menschenseelen ausmachen. Sollte etwan die Na- tur unsers Geschlechts es mit sich bringen, daß es auf immer so bleiben müßte; daß die Summe der vorzüglich entwickelten und aufgeklärten in Vergleichung derer, die da bleiben, wo der gemeine Haufe jetzo stehet, nur sehr geringe sey; und daß dieß Verhältniß zum Vortheil des Ganzen wenig verändert werden könne?
Sehen wir auf die Menschen, wie sie von Natur sind, so müssen wir nach dem, was bis hieher die Ge- schichte und die tägliche Beobachtung gezeiget hat, glau- ben, daß unter ganzen Haufen immer nur sehr wenige Jndividuen sind, bey denen der selbstthätige Naturtrieb in der Seele vorzüglich stark sey. Die größte Menge besteht aus solchen, deren Schwäche, Trägheit und Hang zu dem Sinnlichen verhältnißmäßig zu groß ist, für den Entwickelungstrieb in den höhern Geisteskräf- ten. *) Diese Klasse kann sich nicht weit erheben. Nur starke thierische Bedürfnisse bringen sie in Bewegung. Und wenn die Kräfte auch erwecket sind, so werden sie doch von dem Hang zu dem unthätigen Vergnügen der Sinne aufgehalten. Bey andern von lebhaftern Trieben, de- ren Anzahl schon kleiner ist, erfolget eine etwas größere Entwickelung in den feinern Vermögen. Die körperlichen Ergötzungen der Sinne erfüllen sie nicht; sie suchen Güter der Einbildungskraft, und besonders die Ehre. Aber dennoch wird das überwiegende Gefühl eigener Schwä- che und Bedürfnisse den Eigennutz unendlich mehr stär- ken, als das Mitgefühl für andere. Wenn sich das
letztere
*) Anhang zum eilften Versuch. IV.
IITheil. D d d
und Entwickelung des Menſchen.
vollkommnen und zu begluͤcken ſind! Es hat Europa, wie Herr Jſelin richtig bemerket, ſeinen geſitteten Zuſtand wenigen erleuchteten Einwohnern zu danken, die nicht den hundertſten, wer weiß welchen geringen, Theil al- ler Menſchenſeelen ausmachen. Sollte etwan die Na- tur unſers Geſchlechts es mit ſich bringen, daß es auf immer ſo bleiben muͤßte; daß die Summe der vorzuͤglich entwickelten und aufgeklaͤrten in Vergleichung derer, die da bleiben, wo der gemeine Haufe jetzo ſtehet, nur ſehr geringe ſey; und daß dieß Verhaͤltniß zum Vortheil des Ganzen wenig veraͤndert werden koͤnne?
Sehen wir auf die Menſchen, wie ſie von Natur ſind, ſo muͤſſen wir nach dem, was bis hieher die Ge- ſchichte und die taͤgliche Beobachtung gezeiget hat, glau- ben, daß unter ganzen Haufen immer nur ſehr wenige Jndividuen ſind, bey denen der ſelbſtthaͤtige Naturtrieb in der Seele vorzuͤglich ſtark ſey. Die groͤßte Menge beſteht aus ſolchen, deren Schwaͤche, Traͤgheit und Hang zu dem Sinnlichen verhaͤltnißmaͤßig zu groß iſt, fuͤr den Entwickelungstrieb in den hoͤhern Geiſteskraͤf- ten. *) Dieſe Klaſſe kann ſich nicht weit erheben. Nur ſtarke thieriſche Beduͤrfniſſe bringen ſie in Bewegung. Und wenn die Kraͤfte auch erwecket ſind, ſo werden ſie doch von dem Hang zu dem unthaͤtigen Vergnuͤgen der Sinne aufgehalten. Bey andern von lebhaftern Trieben, de- ren Anzahl ſchon kleiner iſt, erfolget eine etwas groͤßere Entwickelung in den feinern Vermoͤgen. Die koͤrperlichen Ergoͤtzungen der Sinne erfuͤllen ſie nicht; ſie ſuchen Guͤter der Einbildungskraft, und beſonders die Ehre. Aber dennoch wird das uͤberwiegende Gefuͤhl eigener Schwaͤ- che und Beduͤrfniſſe den Eigennutz unendlich mehr ſtaͤr- ken, als das Mitgefuͤhl fuͤr andere. Wenn ſich das
letztere
*) Anhang zum eilften Verſuch. IV.
IITheil. D d d
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und Entwickelung des Menſchen.
vollkommnen und zu begluͤcken ſind! Es hat Europa, wie
Herr Jſelin richtig bemerket, ſeinen geſitteten Zuſtand
wenigen erleuchteten Einwohnern zu danken, die nicht
den hundertſten, wer weiß welchen geringen, Theil al-
ler Menſchenſeelen ausmachen. Sollte etwan die Na-
tur unſers Geſchlechts es mit ſich bringen, daß es auf
immer ſo bleiben muͤßte; daß die Summe der vorzuͤglich
entwickelten und aufgeklaͤrten in Vergleichung derer, die
da bleiben, wo der gemeine Haufe jetzo ſtehet, nur ſehr
geringe ſey; und daß dieß Verhaͤltniß zum Vortheil des
Ganzen wenig veraͤndert werden koͤnne?
Sehen wir auf die Menſchen, wie ſie von Natur
ſind, ſo muͤſſen wir nach dem, was bis hieher die Ge-
ſchichte und die taͤgliche Beobachtung gezeiget hat, glau-
ben, daß unter ganzen Haufen immer nur ſehr wenige
Jndividuen ſind, bey denen der ſelbſtthaͤtige Naturtrieb
in der Seele vorzuͤglich ſtark ſey. Die groͤßte Menge
beſteht aus ſolchen, deren Schwaͤche, Traͤgheit und
Hang zu dem Sinnlichen verhaͤltnißmaͤßig zu groß iſt,
fuͤr den Entwickelungstrieb in den hoͤhern Geiſteskraͤf-
ten. *) Dieſe Klaſſe kann ſich nicht weit erheben. Nur
ſtarke thieriſche Beduͤrfniſſe bringen ſie in Bewegung.
Und wenn die Kraͤfte auch erwecket ſind, ſo werden ſie doch
von dem Hang zu dem unthaͤtigen Vergnuͤgen der Sinne
aufgehalten. Bey andern von lebhaftern Trieben, de-
ren Anzahl ſchon kleiner iſt, erfolget eine etwas groͤßere
Entwickelung in den feinern Vermoͤgen. Die koͤrperlichen
Ergoͤtzungen der Sinne erfuͤllen ſie nicht; ſie ſuchen Guͤter
der Einbildungskraft, und beſonders die Ehre. Aber
dennoch wird das uͤberwiegende Gefuͤhl eigener Schwaͤ-
che und Beduͤrfniſſe den Eigennutz unendlich mehr ſtaͤr-
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*) Anhang zum eilften Verſuch. IV.
II Theil. D d d
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 785. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/815>, abgerufen am 24.11.2024.
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