Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität sagen: rara temporum felicitas, in quibus sentirequae velis, et quae sentias dicere, licet. *) Jn vielen Ländern Europens wird doch die Vorsicht befolget, wel- che die große Monarchin Rußlands gegeben hat. "Man "treibet die Untersuchung bey freyen und anzüglichen "Schriften nicht zu weit, und sieht wohl ein, daß der "Verstand dadurch Zwang und Unterdrückung leide, "und nichts als Unwissenheit entstehe, die Gaben des "menschlichen Verstandes vernichtet und die Lust zum "Schreiben benommen werde." **) Mehrere Regenten und Regierungen verfahren nach diesem Grundsatz. Nur die Grenzen jener Freyheit scheinen vielen noch zu schwer zu finden zu seyn. Denn man sieht ein, daß die ganz uneingeschränkte Preßfreyheit zwar ein starkes wirksa- mes Mittel zur Aufklärung und Vervollkommnung ist; aber auch daß sie ein heroisches Mittel ist, das die Bos- heit der Menschen zu einem allgemeinen Gift machen kann. Diese Besorgung hindert es ohne Zweifel in vielen Ländern bloß, daß man die alten Gesetze der Un- terdrückung lieber bey der Anwendung in einzelnen Fäl- len mäßiget, als sie im Allgemeinen aufhebet. Allein eben dieß läßt hoffen, es werde der durch Philosophie aufgeweckte und durch Geschichte genährte Geist der eigenen und freyen Untersuchung seinen Kreis erwei- tern, *) Histor. I. 1. 6. **) Catharinä der Zweyten Jnstruction zur Verfertigung
eines neuen Gesetzbuches. 483. Diese Schrift ist so- wohl ihres Jnhalts wegen, als weil sie eine Stimme vom Thron enthält, eines der größten Ehrendenkmä- ler, welches sich der Geist unsers Jahrhunderts errichtet hat. Daß so ein Buch, eine festliche Unterhaltung des Menschenfreundes, von einer Souveraine hat können geschrieben werden, beweiset mehr, daß die Mensch- heit sich verbessere, als man daraus, daß die Lesung desselben in einigen Ländern verboten ist, schließen kann, daß sie sich verschlimmere. XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ſagen: rara temporum felicitas, in quibus ſentirequae velis, et quae ſentias dicere, licet. *) Jn vielen Laͤndern Europens wird doch die Vorſicht befolget, wel- che die große Monarchin Rußlands gegeben hat. „Man „treibet die Unterſuchung bey freyen und anzuͤglichen „Schriften nicht zu weit, und ſieht wohl ein, daß der „Verſtand dadurch Zwang und Unterdruͤckung leide, „und nichts als Unwiſſenheit entſtehe, die Gaben des „menſchlichen Verſtandes vernichtet und die Luſt zum „Schreiben benommen werde.“ **) Mehrere Regenten und Regierungen verfahren nach dieſem Grundſatz. Nur die Grenzen jener Freyheit ſcheinen vielen noch zu ſchwer zu finden zu ſeyn. Denn man ſieht ein, daß die ganz uneingeſchraͤnkte Preßfreyheit zwar ein ſtarkes wirkſa- mes Mittel zur Aufklaͤrung und Vervollkommnung iſt; aber auch daß ſie ein heroiſches Mittel iſt, das die Bos- heit der Menſchen zu einem allgemeinen Gift machen kann. Dieſe Beſorgung hindert es ohne Zweifel in vielen Laͤndern bloß, daß man die alten Geſetze der Un- terdruͤckung lieber bey der Anwendung in einzelnen Faͤl- len maͤßiget, als ſie im Allgemeinen aufhebet. Allein eben dieß laͤßt hoffen, es werde der durch Philoſophie aufgeweckte und durch Geſchichte genaͤhrte Geiſt der eigenen und freyen Unterſuchung ſeinen Kreis erwei- tern, *) Hiſtor. I. 1. 6. **) Catharinaͤ der Zweyten Jnſtruction zur Verfertigung
eines neuen Geſetzbuches. 483. Dieſe Schrift iſt ſo- wohl ihres Jnhalts wegen, als weil ſie eine Stimme vom Thron enthaͤlt, eines der groͤßten Ehrendenkmaͤ- ler, welches ſich der Geiſt unſers Jahrhunderts errichtet hat. Daß ſo ein Buch, eine feſtliche Unterhaltung des Menſchenfreundes, von einer Souveraine hat koͤnnen geſchrieben werden, beweiſet mehr, daß die Menſch- heit ſich verbeſſere, als man daraus, daß die Leſung deſſelben in einigen Laͤndern verboten iſt, ſchließen kann, daß ſie ſich verſchlimmere. <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p><pb facs="#f0812" n="782"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt</hi></fw><lb/> ſagen: <hi rendition="#aq">rara temporum felicitas, in quibus ſentire<lb/> quae velis, et quae ſentias dicere, licet.</hi> <note place="foot" n="*)"><hi rendition="#aq">Hiſtor. I.</hi> 1. 6.</note> Jn vielen<lb/> Laͤndern Europens wird doch die Vorſicht befolget, wel-<lb/> che die große Monarchin Rußlands gegeben hat. „Man<lb/> „treibet die Unterſuchung bey freyen und anzuͤglichen<lb/> „Schriften nicht zu weit, und ſieht wohl ein, daß der<lb/> „Verſtand dadurch Zwang und Unterdruͤckung leide,<lb/> „und nichts als Unwiſſenheit entſtehe, die Gaben des<lb/> „menſchlichen Verſtandes vernichtet und die Luſt zum<lb/> „Schreiben benommen werde.“ <note place="foot" n="**)"><hi rendition="#fr">Catharinaͤ der Zweyten Jnſtruction zur Verfertigung<lb/> eines neuen Geſetzbuches.</hi> 483. Dieſe Schrift iſt ſo-<lb/> wohl ihres Jnhalts wegen, als weil ſie eine Stimme<lb/> vom Thron enthaͤlt, eines der groͤßten Ehrendenkmaͤ-<lb/> ler, welches ſich der Geiſt unſers Jahrhunderts errichtet<lb/> hat. Daß ſo ein Buch, eine feſtliche Unterhaltung des<lb/> Menſchenfreundes, von einer Souveraine hat koͤnnen<lb/> geſchrieben werden, beweiſet mehr, daß die Menſch-<lb/> heit ſich verbeſſere, als man daraus, daß die Leſung<lb/> deſſelben in einigen Laͤndern verboten iſt, ſchließen<lb/> kann, daß ſie ſich verſchlimmere.</note> Mehrere Regenten<lb/> und Regierungen verfahren nach dieſem Grundſatz. Nur<lb/> die Grenzen jener Freyheit ſcheinen vielen noch zu ſchwer<lb/> zu finden zu ſeyn. Denn man ſieht ein, daß die ganz<lb/> uneingeſchraͤnkte Preßfreyheit zwar ein ſtarkes wirkſa-<lb/> mes Mittel zur Aufklaͤrung und Vervollkommnung iſt;<lb/> aber auch daß ſie ein heroiſches Mittel iſt, das die Bos-<lb/> heit der Menſchen zu einem allgemeinen Gift machen<lb/> kann. Dieſe Beſorgung hindert es ohne Zweifel in<lb/> vielen Laͤndern bloß, daß man die alten Geſetze der Un-<lb/> terdruͤckung lieber bey der Anwendung in einzelnen Faͤl-<lb/> len maͤßiget, als ſie im Allgemeinen aufhebet. Allein<lb/> eben dieß laͤßt hoffen, es werde der durch Philoſophie<lb/> aufgeweckte und durch Geſchichte genaͤhrte Geiſt der<lb/> eigenen und freyen Unterſuchung ſeinen Kreis erwei-<lb/> <fw place="bottom" type="catch">tern,</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [782/0812]
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
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quae velis, et quae ſentias dicere, licet. *) Jn vielen
Laͤndern Europens wird doch die Vorſicht befolget, wel-
che die große Monarchin Rußlands gegeben hat. „Man
„treibet die Unterſuchung bey freyen und anzuͤglichen
„Schriften nicht zu weit, und ſieht wohl ein, daß der
„Verſtand dadurch Zwang und Unterdruͤckung leide,
„und nichts als Unwiſſenheit entſtehe, die Gaben des
„menſchlichen Verſtandes vernichtet und die Luſt zum
„Schreiben benommen werde.“ **) Mehrere Regenten
und Regierungen verfahren nach dieſem Grundſatz. Nur
die Grenzen jener Freyheit ſcheinen vielen noch zu ſchwer
zu finden zu ſeyn. Denn man ſieht ein, daß die ganz
uneingeſchraͤnkte Preßfreyheit zwar ein ſtarkes wirkſa-
mes Mittel zur Aufklaͤrung und Vervollkommnung iſt;
aber auch daß ſie ein heroiſches Mittel iſt, das die Bos-
heit der Menſchen zu einem allgemeinen Gift machen
kann. Dieſe Beſorgung hindert es ohne Zweifel in
vielen Laͤndern bloß, daß man die alten Geſetze der Un-
terdruͤckung lieber bey der Anwendung in einzelnen Faͤl-
len maͤßiget, als ſie im Allgemeinen aufhebet. Allein
eben dieß laͤßt hoffen, es werde der durch Philoſophie
aufgeweckte und durch Geſchichte genaͤhrte Geiſt der
eigenen und freyen Unterſuchung ſeinen Kreis erwei-
tern,
*) Hiſtor. I. 1. 6.
**) Catharinaͤ der Zweyten Jnſtruction zur Verfertigung
eines neuen Geſetzbuches. 483. Dieſe Schrift iſt ſo-
wohl ihres Jnhalts wegen, als weil ſie eine Stimme
vom Thron enthaͤlt, eines der groͤßten Ehrendenkmaͤ-
ler, welches ſich der Geiſt unſers Jahrhunderts errichtet
hat. Daß ſo ein Buch, eine feſtliche Unterhaltung des
Menſchenfreundes, von einer Souveraine hat koͤnnen
geſchrieben werden, beweiſet mehr, daß die Menſch-
heit ſich verbeſſere, als man daraus, daß die Leſung
deſſelben in einigen Laͤndern verboten iſt, ſchließen
kann, daß ſie ſich verſchlimmere.
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