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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Maße, wie einige sichs vorstellen: würde nicht diese
große Körperkraft einen nähern Hang zur Sinnlichkeit
und Wildheit annehmen, wenn sie ganz allgemein wür-
de? und könnte sie nicht die Menschheit nach einigen
Generationen wieder tief in den rohen Zustand der Bar-
barey und der Wildheit zurückbringen? Das Ganze
der Menschheit gewinnt nur durch ein gewisses Eben-
maß in den Kräften. Wir hoffen gar zu leicht zu viel,
wenn wir dieß von unsern Bestrebungen erwarten, die
nur auf die eine oder andere Seite der Natur gerich-
tet sind.

Noch erheblicher aber ist dieses. Wenn wir nach
der Analogie erwarten, daß eine Verbesserung in dem
Menschengeschlecht möglich sey, wie sie es bey Thieren
und Pflanzen ist: so erinnert man sich nicht, daß in
dem Menschen das, was er durch die Ausbildung wird,
weit weniger in seinen Naturanlagen bestimmt sey, als
bey den übrigen organisirten Wesen. Und nicht nur
das, was er werden, sondern auch das, was er wirken
und wieder zeugen soll, hängt weit mehr von dem Zu-
fall und von äußern Umständen ab, die nicht in seiner
Gewalt sind. Daher muß es weit minder wahrschein-
lich seyn, daß starke, gesunde, muntere und verständige
Eltern Kinder haben werden, die ihnen ähnlich sind,
als bey den Thier- und Pflanzenarten, daß vorzügliche
Saamen auch vorzügliche Früchte geben. Es wäre un-
gemein viel gewonnen, wenn die Naturanlagen in un-
sern Kindern verbessert würden; aber darauf ließe sich
doch nicht Rechnung machen, daß die ganze Wirkung
davon sich lange erhalten, und nicht schon in den näch-
sten Generationen wieder verlöschen würde. Jndessen
hört auch die kleinste Verbesserung in den Naturen nicht
auf unschätzbar zu seyn.

3. Das

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Maße, wie einige ſichs vorſtellen: wuͤrde nicht dieſe
große Koͤrperkraft einen naͤhern Hang zur Sinnlichkeit
und Wildheit annehmen, wenn ſie ganz allgemein wuͤr-
de? und koͤnnte ſie nicht die Menſchheit nach einigen
Generationen wieder tief in den rohen Zuſtand der Bar-
barey und der Wildheit zuruͤckbringen? Das Ganze
der Menſchheit gewinnt nur durch ein gewiſſes Eben-
maß in den Kraͤften. Wir hoffen gar zu leicht zu viel,
wenn wir dieß von unſern Beſtrebungen erwarten, die
nur auf die eine oder andere Seite der Natur gerich-
tet ſind.

Noch erheblicher aber iſt dieſes. Wenn wir nach
der Analogie erwarten, daß eine Verbeſſerung in dem
Menſchengeſchlecht moͤglich ſey, wie ſie es bey Thieren
und Pflanzen iſt: ſo erinnert man ſich nicht, daß in
dem Menſchen das, was er durch die Ausbildung wird,
weit weniger in ſeinen Naturanlagen beſtimmt ſey, als
bey den uͤbrigen organiſirten Weſen. Und nicht nur
das, was er werden, ſondern auch das, was er wirken
und wieder zeugen ſoll, haͤngt weit mehr von dem Zu-
fall und von aͤußern Umſtaͤnden ab, die nicht in ſeiner
Gewalt ſind. Daher muß es weit minder wahrſchein-
lich ſeyn, daß ſtarke, geſunde, muntere und verſtaͤndige
Eltern Kinder haben werden, die ihnen aͤhnlich ſind,
als bey den Thier- und Pflanzenarten, daß vorzuͤgliche
Saamen auch vorzuͤgliche Fruͤchte geben. Es waͤre un-
gemein viel gewonnen, wenn die Naturanlagen in un-
ſern Kindern verbeſſert wuͤrden; aber darauf ließe ſich
doch nicht Rechnung machen, daß die ganze Wirkung
davon ſich lange erhalten, und nicht ſchon in den naͤch-
ſten Generationen wieder verloͤſchen wuͤrde. Jndeſſen
hoͤrt auch die kleinſte Verbeſſerung in den Naturen nicht
auf unſchaͤtzbar zu ſeyn.

3. Das
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[774/0804] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Maße, wie einige ſichs vorſtellen: wuͤrde nicht dieſe große Koͤrperkraft einen naͤhern Hang zur Sinnlichkeit und Wildheit annehmen, wenn ſie ganz allgemein wuͤr- de? und koͤnnte ſie nicht die Menſchheit nach einigen Generationen wieder tief in den rohen Zuſtand der Bar- barey und der Wildheit zuruͤckbringen? Das Ganze der Menſchheit gewinnt nur durch ein gewiſſes Eben- maß in den Kraͤften. Wir hoffen gar zu leicht zu viel, wenn wir dieß von unſern Beſtrebungen erwarten, die nur auf die eine oder andere Seite der Natur gerich- tet ſind. Noch erheblicher aber iſt dieſes. Wenn wir nach der Analogie erwarten, daß eine Verbeſſerung in dem Menſchengeſchlecht moͤglich ſey, wie ſie es bey Thieren und Pflanzen iſt: ſo erinnert man ſich nicht, daß in dem Menſchen das, was er durch die Ausbildung wird, weit weniger in ſeinen Naturanlagen beſtimmt ſey, als bey den uͤbrigen organiſirten Weſen. Und nicht nur das, was er werden, ſondern auch das, was er wirken und wieder zeugen ſoll, haͤngt weit mehr von dem Zu- fall und von aͤußern Umſtaͤnden ab, die nicht in ſeiner Gewalt ſind. Daher muß es weit minder wahrſchein- lich ſeyn, daß ſtarke, geſunde, muntere und verſtaͤndige Eltern Kinder haben werden, die ihnen aͤhnlich ſind, als bey den Thier- und Pflanzenarten, daß vorzuͤgliche Saamen auch vorzuͤgliche Fruͤchte geben. Es waͤre un- gemein viel gewonnen, wenn die Naturanlagen in un- ſern Kindern verbeſſert wuͤrden; aber darauf ließe ſich doch nicht Rechnung machen, daß die ganze Wirkung davon ſich lange erhalten, und nicht ſchon in den naͤch- ſten Generationen wieder verloͤſchen wuͤrde. Jndeſſen hoͤrt auch die kleinſte Verbeſſerung in den Naturen nicht auf unſchaͤtzbar zu ſeyn. 3. Das

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 774. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/804>, abgerufen am 24.11.2024.