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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
die heilsamen Wirkungen davon sich bald merklich ma-
chen werden. Die Aerzte sagen es mit Gründen, daß
auf dem willkürlichen Benehmen der Eltern, auf ihrer
Lebensart, ihren Denkarten und Sitten vieles beruhe,
wenn die Kinder schwach und kränklich sind. Ohne
Zweifel liegt hier eine versteckte und verkannte Quelle
von unzähligen Plagen der Menschheit, die verstopft
werden könnte, wenn jene Erinnerungen mehr Gehör
fänden. Kann aber die Natur der Nachkommen durch
die Aufführung der Eltern verschlimmert werden, so
wird sie in gleicher Maße auf der andern Seite durch
eine entgegengesetzte sich verbessern lassen.

Allein so viele Aufmerksamkeit auch alle hieher gehö-
rigen wohlüberlegten Vorschläge verdienen, und so viel
gutes sich von den Ursachen erwarten läßt, die man je-
tzo anfängt in Thätigkeit zu setzen: so liegt doch selbst in
der Natur des Menschen ein Grund, der die guten Er-
wartungen davon schwächen muß. Das nicht zu sagen,
daß eine solche Veredelung der Naturen bald ihre Gren-
ze erreichen müsse, zu der sie kommen kann. Sie ist
keiner immer steigenden Progression fähig. Denn wer
wird hoffen, daß unser Geschlecht jemals zu einem Rie-
sengeschlecht am Körper und einem Engelgeschlecht am
Geiste werden kann? Es kann jedwede Verbesserung
der Art wohl nichts mehr als eine einseitige Verbesse-
rung seyn, die gar zu leicht eine Verschlimmerung auf
einer andern Seite entweder schon bey sich führen, oder
nach sich ziehen muß. Gesetzt, unsere Kinder werden
durch eine härtere Erziehung gesündere und stärkere Män-
ner, und erzielen eine noch mehr herkulische Nachkom-
menschaft: ist es zu erwarten, daß diese Körperstärke
mit einem gleichen Grade von Stärke der Vernunft be-
gleitet sey? Man wird nicht leicht zu viel ausrichten;
darum darf darüber zur Zeit noch nichts erinnert wer-
den. Allein gesetzt man erreichte die Absicht in der

Maße,
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und Entwickelung des Menſchen.
die heilſamen Wirkungen davon ſich bald merklich ma-
chen werden. Die Aerzte ſagen es mit Gruͤnden, daß
auf dem willkuͤrlichen Benehmen der Eltern, auf ihrer
Lebensart, ihren Denkarten und Sitten vieles beruhe,
wenn die Kinder ſchwach und kraͤnklich ſind. Ohne
Zweifel liegt hier eine verſteckte und verkannte Quelle
von unzaͤhligen Plagen der Menſchheit, die verſtopft
werden koͤnnte, wenn jene Erinnerungen mehr Gehoͤr
faͤnden. Kann aber die Natur der Nachkommen durch
die Auffuͤhrung der Eltern verſchlimmert werden, ſo
wird ſie in gleicher Maße auf der andern Seite durch
eine entgegengeſetzte ſich verbeſſern laſſen.

Allein ſo viele Aufmerkſamkeit auch alle hieher gehoͤ-
rigen wohluͤberlegten Vorſchlaͤge verdienen, und ſo viel
gutes ſich von den Urſachen erwarten laͤßt, die man je-
tzo anfaͤngt in Thaͤtigkeit zu ſetzen: ſo liegt doch ſelbſt in
der Natur des Menſchen ein Grund, der die guten Er-
wartungen davon ſchwaͤchen muß. Das nicht zu ſagen,
daß eine ſolche Veredelung der Naturen bald ihre Gren-
ze erreichen muͤſſe, zu der ſie kommen kann. Sie iſt
keiner immer ſteigenden Progreſſion faͤhig. Denn wer
wird hoffen, daß unſer Geſchlecht jemals zu einem Rie-
ſengeſchlecht am Koͤrper und einem Engelgeſchlecht am
Geiſte werden kann? Es kann jedwede Verbeſſerung
der Art wohl nichts mehr als eine einſeitige Verbeſſe-
rung ſeyn, die gar zu leicht eine Verſchlimmerung auf
einer andern Seite entweder ſchon bey ſich fuͤhren, oder
nach ſich ziehen muß. Geſetzt, unſere Kinder werden
durch eine haͤrtere Erziehung geſuͤndere und ſtaͤrkere Maͤn-
ner, und erzielen eine noch mehr herkuliſche Nachkom-
menſchaft: iſt es zu erwarten, daß dieſe Koͤrperſtaͤrke
mit einem gleichen Grade von Staͤrke der Vernunft be-
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Maße,
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[773/0803] und Entwickelung des Menſchen. die heilſamen Wirkungen davon ſich bald merklich ma- chen werden. Die Aerzte ſagen es mit Gruͤnden, daß auf dem willkuͤrlichen Benehmen der Eltern, auf ihrer Lebensart, ihren Denkarten und Sitten vieles beruhe, wenn die Kinder ſchwach und kraͤnklich ſind. Ohne Zweifel liegt hier eine verſteckte und verkannte Quelle von unzaͤhligen Plagen der Menſchheit, die verſtopft werden koͤnnte, wenn jene Erinnerungen mehr Gehoͤr faͤnden. Kann aber die Natur der Nachkommen durch die Auffuͤhrung der Eltern verſchlimmert werden, ſo wird ſie in gleicher Maße auf der andern Seite durch eine entgegengeſetzte ſich verbeſſern laſſen. Allein ſo viele Aufmerkſamkeit auch alle hieher gehoͤ- rigen wohluͤberlegten Vorſchlaͤge verdienen, und ſo viel gutes ſich von den Urſachen erwarten laͤßt, die man je- tzo anfaͤngt in Thaͤtigkeit zu ſetzen: ſo liegt doch ſelbſt in der Natur des Menſchen ein Grund, der die guten Er- wartungen davon ſchwaͤchen muß. Das nicht zu ſagen, daß eine ſolche Veredelung der Naturen bald ihre Gren- ze erreichen muͤſſe, zu der ſie kommen kann. Sie iſt keiner immer ſteigenden Progreſſion faͤhig. Denn wer wird hoffen, daß unſer Geſchlecht jemals zu einem Rie- ſengeſchlecht am Koͤrper und einem Engelgeſchlecht am Geiſte werden kann? Es kann jedwede Verbeſſerung der Art wohl nichts mehr als eine einſeitige Verbeſſe- rung ſeyn, die gar zu leicht eine Verſchlimmerung auf einer andern Seite entweder ſchon bey ſich fuͤhren, oder nach ſich ziehen muß. Geſetzt, unſere Kinder werden durch eine haͤrtere Erziehung geſuͤndere und ſtaͤrkere Maͤn- ner, und erzielen eine noch mehr herkuliſche Nachkom- menſchaft: iſt es zu erwarten, daß dieſe Koͤrperſtaͤrke mit einem gleichen Grade von Staͤrke der Vernunft be- gleitet ſey? Man wird nicht leicht zu viel ausrichten; darum darf daruͤber zur Zeit noch nichts erinnert wer- den. Allein geſetzt man erreichte die Abſicht in der Maße, C c c 3

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 773. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/803>, abgerufen am 24.11.2024.