muß, ohne daß der Vater das Kind bey der Geburt so- gleich auf eine gewisse Höhe hinstellen könnte. Gleiche Unwissenheit, gleiche Trägheit, gleich starker natürlicher Hang in den ersten Entwickelungen der Sinnlichkeit sich zu verlieren, ist in allen Kinderseelen, bey den Nach- kommen sowohl als bey den Vorältern. Könnten nun die Kräfte und Vermögen stärker, lebendiger und trei- bender gemacht werden, so würden die so beglückten Nachkommen geschwinder und weiter fortkommen. Die Sinne würden feiner und schärfer seyn, besonders das innere Gefühl. Und dieß könnte ohne eine Verfeinerung und Stärke in der innern Organisation nicht stattfinden.
Die Erfahrung legt uns einige Beyspiele von einer solchen Verbesserung der menschlichen Natur vor, die, wenigstens von einer Seite betrachtet, eine Veredelung heißen kann. Ganze Völker werden durch die Vermi- schung mit andern, wie die Perser durch ihre Verbin- dung mit den cirkassischen Weibern, größer, stärker und wohlgebildeter am Körper. Viele Jndianer mögen von den kultivirten Europäern eine muntrere, geschmeidigere und klügere Nachkommenschaft erhalten haben. Viel- leicht ist die Wirkung an den Seelen der Kreolen eben so merklich, als an ihrer Farbe. Es giebt auch einzelne Beyspiele, welche lehren, daß Vorzüge der Aeltern wie Gebrechen auf die Kinder übergehen. Man hat sich noch mehr durch die Analogie von den Thieren und Pflan- zen hierinn bestätiget. Man wende alle Sorgfalt auf die physische Erziehung der Kinder, die sie verdienet, so wie man sie hie und da bey Pflanzen und zahmen Thierarten verwendet. Und man muß es mit Vergnü- gen bemerken, daß es jetzo anfängt wirklich zu gesche- hen, was noch allgemeiner werden wird, je mehr die philantropinische Erziehung sich ausbreitet. Man fange damit schon an vor der Geburt, von der Erzeugung, wie von vielen vorgeschlagen ist. Es ist zu hoffen, daß
die
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
muß, ohne daß der Vater das Kind bey der Geburt ſo- gleich auf eine gewiſſe Hoͤhe hinſtellen koͤnnte. Gleiche Unwiſſenheit, gleiche Traͤgheit, gleich ſtarker natuͤrlicher Hang in den erſten Entwickelungen der Sinnlichkeit ſich zu verlieren, iſt in allen Kinderſeelen, bey den Nach- kommen ſowohl als bey den Voraͤltern. Koͤnnten nun die Kraͤfte und Vermoͤgen ſtaͤrker, lebendiger und trei- bender gemacht werden, ſo wuͤrden die ſo begluͤckten Nachkommen geſchwinder und weiter fortkommen. Die Sinne wuͤrden feiner und ſchaͤrfer ſeyn, beſonders das innere Gefuͤhl. Und dieß koͤnnte ohne eine Verfeinerung und Staͤrke in der innern Organiſation nicht ſtattfinden.
Die Erfahrung legt uns einige Beyſpiele von einer ſolchen Verbeſſerung der menſchlichen Natur vor, die, wenigſtens von einer Seite betrachtet, eine Veredelung heißen kann. Ganze Voͤlker werden durch die Vermi- ſchung mit andern, wie die Perſer durch ihre Verbin- dung mit den cirkaſſiſchen Weibern, groͤßer, ſtaͤrker und wohlgebildeter am Koͤrper. Viele Jndianer moͤgen von den kultivirten Europaͤern eine muntrere, geſchmeidigere und kluͤgere Nachkommenſchaft erhalten haben. Viel- leicht iſt die Wirkung an den Seelen der Kreolen eben ſo merklich, als an ihrer Farbe. Es giebt auch einzelne Beyſpiele, welche lehren, daß Vorzuͤge der Aeltern wie Gebrechen auf die Kinder uͤbergehen. Man hat ſich noch mehr durch die Analogie von den Thieren und Pflan- zen hierinn beſtaͤtiget. Man wende alle Sorgfalt auf die phyſiſche Erziehung der Kinder, die ſie verdienet, ſo wie man ſie hie und da bey Pflanzen und zahmen Thierarten verwendet. Und man muß es mit Vergnuͤ- gen bemerken, daß es jetzo anfaͤngt wirklich zu geſche- hen, was noch allgemeiner werden wird, je mehr die philantropiniſche Erziehung ſich ausbreitet. Man fange damit ſchon an vor der Geburt, von der Erzeugung, wie von vielen vorgeſchlagen iſt. Es iſt zu hoffen, daß
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
muß, ohne daß der Vater das Kind bey der Geburt ſo-
gleich auf eine gewiſſe Hoͤhe hinſtellen koͤnnte. Gleiche
Unwiſſenheit, gleiche Traͤgheit, gleich ſtarker natuͤrlicher
Hang in den erſten Entwickelungen der Sinnlichkeit ſich
zu verlieren, iſt in allen Kinderſeelen, bey den Nach-
kommen ſowohl als bey den Voraͤltern. Koͤnnten nun
die Kraͤfte und Vermoͤgen ſtaͤrker, lebendiger und trei-
bender gemacht werden, ſo wuͤrden die ſo begluͤckten
Nachkommen geſchwinder und weiter fortkommen. Die
Sinne wuͤrden feiner und ſchaͤrfer ſeyn, beſonders das
innere Gefuͤhl. Und dieß koͤnnte ohne eine Verfeinerung
und Staͤrke in der innern Organiſation nicht ſtattfinden.
Die Erfahrung legt uns einige Beyſpiele von einer
ſolchen Verbeſſerung der menſchlichen Natur vor, die,
wenigſtens von einer Seite betrachtet, eine Veredelung
heißen kann. Ganze Voͤlker werden durch die Vermi-
ſchung mit andern, wie die Perſer durch ihre Verbin-
dung mit den cirkaſſiſchen Weibern, groͤßer, ſtaͤrker und
wohlgebildeter am Koͤrper. Viele Jndianer moͤgen von
den kultivirten Europaͤern eine muntrere, geſchmeidigere
und kluͤgere Nachkommenſchaft erhalten haben. Viel-
leicht iſt die Wirkung an den Seelen der Kreolen eben
ſo merklich, als an ihrer Farbe. Es giebt auch einzelne
Beyſpiele, welche lehren, daß Vorzuͤge der Aeltern wie
Gebrechen auf die Kinder uͤbergehen. Man hat ſich
noch mehr durch die Analogie von den Thieren und Pflan-
zen hierinn beſtaͤtiget. Man wende alle Sorgfalt auf
die phyſiſche Erziehung der Kinder, die ſie verdienet,
ſo wie man ſie hie und da bey Pflanzen und zahmen
Thierarten verwendet. Und man muß es mit Vergnuͤ-
gen bemerken, daß es jetzo anfaͤngt wirklich zu geſche-
hen, was noch allgemeiner werden wird, je mehr die
philantropiniſche Erziehung ſich ausbreitet. Man fange
damit ſchon an vor der Geburt, von der Erzeugung,
wie von vielen vorgeſchlagen iſt. Es iſt zu hoffen, daß
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 772. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/802>, abgerufen am 24.11.2024.
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