Ohne mich weiter auf die Folgen einzulassen, die hieraus mittelst des Raisonnements aus den Allgemein- begriffen von einfachen Wesen, von Kräften und Ver- mögen gezogen werden können, will ich nur eine anfüh- ren, die näher bey dem bleibt, was aus Beobachtun- gen genommen wird. So lange der Mensch lebt, hängt die Thätigkeit der Seele, so weit sie nämlich fühlbar und apperceptibel ist, von dem Gefühl aus dem Körper ab, wodurch sie gereizet werden muß. Und es scheint nicht, daß sie vor dem Tode dieser Abhängigkeit sich ent- laden könne. Sollte sich bey einer fortdauernden, ob- gleich unfühlbaren, Wirksamkeit der Seele in dem Jn- nern ihre Selbstthätigkeit nicht endlich so weit stärken, daß sie des Einflusses von außen nicht mehr bedarf? und wird sie nicht schon immer gestärket, je mehr die Seele im Alter genöthigt wird, sich in sich selbst zurück- zuziehen? Es zeiget sich doch die Möglichkeit hievon und die Art, wie solches, des äußern Scheins der zuneh- menden Schwäche ohnerachtet, geschehen könne. Und mehr will ich hier nicht behaupten. Denn wenn sie auch wirklich an Wirksamkeit und innerm Leben abnimmt, so kann sie doch nie ihre Vermögen noch ihre Vorstel- lungen verlieren. Sie kann also aufs Aeußerste nie wei- ter zurückkommen, als bis an den Zustand, in welchem sie zwar nicht lebendig thätig ist, wie vorher, aber doch auch nichts mehr als äußere Reize bedarf, um nicht nur wiederum zu wirken, sondern auch mit ihrer vollen ent- wickelten Stärke und ihren erworbenen Fertigkeiten zu wirken. Es darf kein neues thätiges Princip in sie hin- eingebracht, sondern die innere Kraft nur stark genug gereizt werden, um wieder zu ihrem vollen vorigen Le- ben erweckt zu werden. Es ist unwahrscheinlich, daß es zu einer völligen innern Unwirksamkeit jemals komme.
Erfahrungen hat man, wie ich mehrmalen einge- standen habe, nicht, woraus sich diese Vorstellung völ-
lig
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Ohne mich weiter auf die Folgen einzulaſſen, die hieraus mittelſt des Raiſonnements aus den Allgemein- begriffen von einfachen Weſen, von Kraͤften und Ver- moͤgen gezogen werden koͤnnen, will ich nur eine anfuͤh- ren, die naͤher bey dem bleibt, was aus Beobachtun- gen genommen wird. So lange der Menſch lebt, haͤngt die Thaͤtigkeit der Seele, ſo weit ſie naͤmlich fuͤhlbar und apperceptibel iſt, von dem Gefuͤhl aus dem Koͤrper ab, wodurch ſie gereizet werden muß. Und es ſcheint nicht, daß ſie vor dem Tode dieſer Abhaͤngigkeit ſich ent- laden koͤnne. Sollte ſich bey einer fortdauernden, ob- gleich unfuͤhlbaren, Wirkſamkeit der Seele in dem Jn- nern ihre Selbſtthaͤtigkeit nicht endlich ſo weit ſtaͤrken, daß ſie des Einfluſſes von außen nicht mehr bedarf? und wird ſie nicht ſchon immer geſtaͤrket, je mehr die Seele im Alter genoͤthigt wird, ſich in ſich ſelbſt zuruͤck- zuziehen? Es zeiget ſich doch die Moͤglichkeit hievon und die Art, wie ſolches, des aͤußern Scheins der zuneh- menden Schwaͤche ohnerachtet, geſchehen koͤnne. Und mehr will ich hier nicht behaupten. Denn wenn ſie auch wirklich an Wirkſamkeit und innerm Leben abnimmt, ſo kann ſie doch nie ihre Vermoͤgen noch ihre Vorſtel- lungen verlieren. Sie kann alſo aufs Aeußerſte nie wei- ter zuruͤckkommen, als bis an den Zuſtand, in welchem ſie zwar nicht lebendig thaͤtig iſt, wie vorher, aber doch auch nichts mehr als aͤußere Reize bedarf, um nicht nur wiederum zu wirken, ſondern auch mit ihrer vollen ent- wickelten Staͤrke und ihren erworbenen Fertigkeiten zu wirken. Es darf kein neues thaͤtiges Princip in ſie hin- eingebracht, ſondern die innere Kraft nur ſtark genug gereizt werden, um wieder zu ihrem vollen vorigen Le- ben erweckt zu werden. Es iſt unwahrſcheinlich, daß es zu einer voͤlligen innern Unwirkſamkeit jemals komme.
Erfahrungen hat man, wie ich mehrmalen einge- ſtanden habe, nicht, woraus ſich dieſe Vorſtellung voͤl-
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Ohne mich weiter auf die Folgen einzulaſſen, die
hieraus mittelſt des Raiſonnements aus den Allgemein-
begriffen von einfachen Weſen, von Kraͤften und Ver-
moͤgen gezogen werden koͤnnen, will ich nur eine anfuͤh-
ren, die naͤher bey dem bleibt, was aus Beobachtun-
gen genommen wird. So lange der Menſch lebt, haͤngt
die Thaͤtigkeit der Seele, ſo weit ſie naͤmlich fuͤhlbar
und apperceptibel iſt, von dem Gefuͤhl aus dem Koͤrper
ab, wodurch ſie gereizet werden muß. Und es ſcheint
nicht, daß ſie vor dem Tode dieſer Abhaͤngigkeit ſich ent-
laden koͤnne. Sollte ſich bey einer fortdauernden, ob-
gleich unfuͤhlbaren, Wirkſamkeit der Seele in dem Jn-
nern ihre Selbſtthaͤtigkeit nicht endlich ſo weit ſtaͤrken,
daß ſie des Einfluſſes von außen nicht mehr bedarf?
und wird ſie nicht ſchon immer geſtaͤrket, je mehr die
Seele im Alter genoͤthigt wird, ſich in ſich ſelbſt zuruͤck-
zuziehen? Es zeiget ſich doch die Moͤglichkeit hievon
und die Art, wie ſolches, des aͤußern Scheins der zuneh-
menden Schwaͤche ohnerachtet, geſchehen koͤnne. Und
mehr will ich hier nicht behaupten. Denn wenn ſie
auch wirklich an Wirkſamkeit und innerm Leben abnimmt,
ſo kann ſie doch nie ihre Vermoͤgen noch ihre Vorſtel-
lungen verlieren. Sie kann alſo aufs Aeußerſte nie wei-
ter zuruͤckkommen, als bis an den Zuſtand, in welchem
ſie zwar nicht lebendig thaͤtig iſt, wie vorher, aber doch
auch nichts mehr als aͤußere Reize bedarf, um nicht nur
wiederum zu wirken, ſondern auch mit ihrer vollen ent-
wickelten Staͤrke und ihren erworbenen Fertigkeiten zu
wirken. Es darf kein neues thaͤtiges Princip in ſie hin-
eingebracht, ſondern die innere Kraft nur ſtark genug
gereizt werden, um wieder zu ihrem vollen vorigen Le-
ben erweckt zu werden. Es iſt unwahrſcheinlich, daß
es zu einer voͤlligen innern Unwirkſamkeit jemals komme.
Erfahrungen hat man, wie ich mehrmalen einge-
ſtanden habe, nicht, woraus ſich dieſe Vorſtellung voͤl-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 764. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/794>, abgerufen am 22.11.2024.
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