bey ganzen Völkern, als bey Jndividuen. Die Ent- wickelung geht bey einigen geschwinder, bey andern lang- samer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der Stillstand früher oder später. Jndessen findet sich doch auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch wiederum auf die allgemeine Geschlechtsgleichheit zurück- führet. Aber es giebt auch Verschiedenheit genug, die schon in der angebornen Natur, oder in den äußern Um- ständen, oder in beiden, ihren Grund hat. Die früh- zeitige Anführung der Jugend thut hierzu sehr viel, wie die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs- kraft, durch die beständige Uebung, in Kindern, die fast allein in dem Umgang der schon gesetzten Erwachsenen gebildet werden, und beschleuniget daher die natürliche Mündigkeit einigermaßen. Dennoch aber ist ihr Ein- fluß in Hinsicht der absoluten Vermögen nicht so groß, als in Hinsicht der besondern Geschicklichkeiten.
Dieß ist freylich nur noch etwas sehr Allgemeines und Unbestimmtes. Und viel mehr Bestimmtes läßt sich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun- gen angeben. Diese sind selbst noch so unvollständig, besonders in Hinsicht der Grade und Stufen in den Wirkungen, worauf doch so vieles ankommt. Viel- leicht ist zu hoffen, die Geschichte der Erziehung, dieser wichtige Beytrag zur Experimentalphysik der Seele, mit der kaum ein Anfang gemacht ist, werde uns künftig sorgfältigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl gar Versuche, hierüber liefern. *)
3. Die
*) Hr. Ulloa sagt von den Einwohnern zu Carthagena in Amerika, was auch andere schon vor ihm bemerkt ha- ben, daß ihr Verstand sich ausnehmend zeitig entwickle. Jhre Kinder von zwey Jahren sprechen und handeln ver- nünftiger, als sie es anderswo von vier und fünf Jah- ren thun. Jene besitzen überhaupt eine schnelle Fas-
sungs-
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und Entwickelung des Menſchen.
bey ganzen Voͤlkern, als bey Jndividuen. Die Ent- wickelung geht bey einigen geſchwinder, bey andern lang- ſamer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der Stillſtand fruͤher oder ſpaͤter. Jndeſſen findet ſich doch auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch wiederum auf die allgemeine Geſchlechtsgleichheit zuruͤck- fuͤhret. Aber es giebt auch Verſchiedenheit genug, die ſchon in der angebornen Natur, oder in den aͤußern Um- ſtaͤnden, oder in beiden, ihren Grund hat. Die fruͤh- zeitige Anfuͤhrung der Jugend thut hierzu ſehr viel, wie die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs- kraft, durch die beſtaͤndige Uebung, in Kindern, die faſt allein in dem Umgang der ſchon geſetzten Erwachſenen gebildet werden, und beſchleuniget daher die natuͤrliche Muͤndigkeit einigermaßen. Dennoch aber iſt ihr Ein- fluß in Hinſicht der abſoluten Vermoͤgen nicht ſo groß, als in Hinſicht der beſondern Geſchicklichkeiten.
Dieß iſt freylich nur noch etwas ſehr Allgemeines und Unbeſtimmtes. Und viel mehr Beſtimmtes laͤßt ſich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun- gen angeben. Dieſe ſind ſelbſt noch ſo unvollſtaͤndig, beſonders in Hinſicht der Grade und Stufen in den Wirkungen, worauf doch ſo vieles ankommt. Viel- leicht iſt zu hoffen, die Geſchichte der Erziehung, dieſer wichtige Beytrag zur Experimentalphyſik der Seele, mit der kaum ein Anfang gemacht iſt, werde uns kuͤnftig ſorgfaͤltigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl gar Verſuche, hieruͤber liefern. *)
3. Die
*) Hr. Ulloa ſagt von den Einwohnern zu Carthagena in Amerika, was auch andere ſchon vor ihm bemerkt ha- ben, daß ihr Verſtand ſich ausnehmend zeitig entwickle. Jhre Kinder von zwey Jahren ſprechen und handeln ver- nuͤnftiger, als ſie es anderswo von vier und fuͤnf Jah- ren thun. Jene beſitzen uͤberhaupt eine ſchnelle Faſ-
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und Entwickelung des Menſchen.
bey ganzen Voͤlkern, als bey Jndividuen. Die Ent-
wickelung geht bey einigen geſchwinder, bey andern lang-
ſamer fort; und daher erfolgt auch die Reife und der
Stillſtand fruͤher oder ſpaͤter. Jndeſſen findet ſich doch
auch hierinn etwas allgemeines, bey allen, das uns auch
wiederum auf die allgemeine Geſchlechtsgleichheit zuruͤck-
fuͤhret. Aber es giebt auch Verſchiedenheit genug, die
ſchon in der angebornen Natur, oder in den aͤußern Um-
ſtaͤnden, oder in beiden, ihren Grund hat. Die fruͤh-
zeitige Anfuͤhrung der Jugend thut hierzu ſehr viel, wie
die Erfahrung lehret. Sie zeitiget die Ueberlegungs-
kraft, durch die beſtaͤndige Uebung, in Kindern, die faſt
allein in dem Umgang der ſchon geſetzten Erwachſenen
gebildet werden, und beſchleuniget daher die natuͤrliche
Muͤndigkeit einigermaßen. Dennoch aber iſt ihr Ein-
fluß in Hinſicht der abſoluten Vermoͤgen nicht ſo groß,
als in Hinſicht der beſondern Geſchicklichkeiten.
Dieß iſt freylich nur noch etwas ſehr Allgemeines
und Unbeſtimmtes. Und viel mehr Beſtimmtes laͤßt
ſich auch zur Zeit noch wohl nicht aus den Beobachtun-
gen angeben. Dieſe ſind ſelbſt noch ſo unvollſtaͤndig,
beſonders in Hinſicht der Grade und Stufen in den
Wirkungen, worauf doch ſo vieles ankommt. Viel-
leicht iſt zu hoffen, die Geſchichte der Erziehung, dieſer
wichtige Beytrag zur Experimentalphyſik der Seele, mit
der kaum ein Anfang gemacht iſt, werde uns kuͤnftig
ſorgfaͤltigere und genauere Wahrnehmungen, auch wohl
gar Verſuche, hieruͤber liefern. *)
3. Die
*) Hr. Ulloa ſagt von den Einwohnern zu Carthagena in
Amerika, was auch andere ſchon vor ihm bemerkt ha-
ben, daß ihr Verſtand ſich ausnehmend zeitig entwickle.
Jhre Kinder von zwey Jahren ſprechen und handeln ver-
nuͤnftiger, als ſie es anderswo von vier und fuͤnf Jah-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 713. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/743>, abgerufen am 23.11.2024.
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