über zu entscheiden, wie viel vorzüglicher die Wirkung des Einen vor dem andern sey? Es ist dieß vielleicht unmöglich. Der zufälligen Beschaffenheiten, die hin- zukommen, und doch zu dem eigentlichen Geist der Stände nicht gehören, sind zu viele. Diese müssen doch abgesondert werden, wenn man ihren innern Werth be- stimmen will.
3.
Dieß ist genug, um den Standesstoltz zu unterdrü- cken. Aber es würde übertrieben seyn, hieraus zu fol- gern, die innere Vervollkommnung lasse sich in jedem äußern Zustande, in gleicher Maße, und gleich leicht erlangen; eben so übertrieben, als die Behauptung des Zeno und des Epikurs von ihrem Weisen war, der eben so glücklich seyn sollte im Elend als im Ueberfluß, im Gefängniß als in der Freyheit, in dem Ochsen des Phalaris, als auf dem weichsten Lager. Das Gefühl widerspricht solchen überspannten Grundsätzen zu laut. Es gieng ein Rechnungsfehler hiebey vor. Der An- theil, den die Eindrücke der äußern Sinne an dem Wohl und Weh des Menschen haben, so lange er in dieser Welt lebt, war zu niedrig angeschlagen. Eben so würde es auch seyn, wenn man es zum Grundsatz machen wollte: die Entwickelung der Menschheit gehe gleich gut von statten, bey jedweden äußern Beziehun- gen, daferne nur der innere Trieb in allen von der näm- lichen Stärke sey. So viel auf das angeborne Genie auch ankommt, so kann doch darüber kein Zweifel mehr seyn, daß die äußern Umstände den Geist zurückhalten und unterdrücken, oder hervorziehen und aufmuntern. Vielleicht wenn schon ein Anfang in der Entwickelung nach einer Richtung hin gemacht ist, und also nicht mehr die bloße Natur sondern gestärkte Disposition vorhan- den ist: so mögen die äußern Beziehungen in Hinsicht
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und Entwickelung des Menſchen.
uͤber zu entſcheiden, wie viel vorzuͤglicher die Wirkung des Einen vor dem andern ſey? Es iſt dieß vielleicht unmoͤglich. Der zufaͤlligen Beſchaffenheiten, die hin- zukommen, und doch zu dem eigentlichen Geiſt der Staͤnde nicht gehoͤren, ſind zu viele. Dieſe muͤſſen doch abgeſondert werden, wenn man ihren innern Werth be- ſtimmen will.
3.
Dieß iſt genug, um den Standesſtoltz zu unterdruͤ- cken. Aber es wuͤrde uͤbertrieben ſeyn, hieraus zu fol- gern, die innere Vervollkommnung laſſe ſich in jedem aͤußern Zuſtande, in gleicher Maße, und gleich leicht erlangen; eben ſo uͤbertrieben, als die Behauptung des Zeno und des Epikurs von ihrem Weiſen war, der eben ſo gluͤcklich ſeyn ſollte im Elend als im Ueberfluß, im Gefaͤngniß als in der Freyheit, in dem Ochſen des Phalaris, als auf dem weichſten Lager. Das Gefuͤhl widerſpricht ſolchen uͤberſpannten Grundſaͤtzen zu laut. Es gieng ein Rechnungsfehler hiebey vor. Der An- theil, den die Eindruͤcke der aͤußern Sinne an dem Wohl und Weh des Menſchen haben, ſo lange er in dieſer Welt lebt, war zu niedrig angeſchlagen. Eben ſo wuͤrde es auch ſeyn, wenn man es zum Grundſatz machen wollte: die Entwickelung der Menſchheit gehe gleich gut von ſtatten, bey jedweden aͤußern Beziehun- gen, daferne nur der innere Trieb in allen von der naͤm- lichen Staͤrke ſey. So viel auf das angeborne Genie auch ankommt, ſo kann doch daruͤber kein Zweifel mehr ſeyn, daß die aͤußern Umſtaͤnde den Geiſt zuruͤckhalten und unterdruͤcken, oder hervorziehen und aufmuntern. Vielleicht wenn ſchon ein Anfang in der Entwickelung nach einer Richtung hin gemacht iſt, und alſo nicht mehr die bloße Natur ſondern geſtaͤrkte Diſpoſition vorhan- den iſt: ſo moͤgen die aͤußern Beziehungen in Hinſicht
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und Entwickelung des Menſchen.
uͤber zu entſcheiden, wie viel vorzuͤglicher die Wirkung
des Einen vor dem andern ſey? Es iſt dieß vielleicht
unmoͤglich. Der zufaͤlligen Beſchaffenheiten, die hin-
zukommen, und doch zu dem eigentlichen Geiſt der
Staͤnde nicht gehoͤren, ſind zu viele. Dieſe muͤſſen doch
abgeſondert werden, wenn man ihren innern Werth be-
ſtimmen will.
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Dieß iſt genug, um den Standesſtoltz zu unterdruͤ-
cken. Aber es wuͤrde uͤbertrieben ſeyn, hieraus zu fol-
gern, die innere Vervollkommnung laſſe ſich in jedem
aͤußern Zuſtande, in gleicher Maße, und gleich leicht
erlangen; eben ſo uͤbertrieben, als die Behauptung des
Zeno und des Epikurs von ihrem Weiſen war, der eben
ſo gluͤcklich ſeyn ſollte im Elend als im Ueberfluß, im
Gefaͤngniß als in der Freyheit, in dem Ochſen des
Phalaris, als auf dem weichſten Lager. Das Gefuͤhl
widerſpricht ſolchen uͤberſpannten Grundſaͤtzen zu laut.
Es gieng ein Rechnungsfehler hiebey vor. Der An-
theil, den die Eindruͤcke der aͤußern Sinne an dem
Wohl und Weh des Menſchen haben, ſo lange er in
dieſer Welt lebt, war zu niedrig angeſchlagen. Eben
ſo wuͤrde es auch ſeyn, wenn man es zum Grundſatz
machen wollte: die Entwickelung der Menſchheit gehe
gleich gut von ſtatten, bey jedweden aͤußern Beziehun-
gen, daferne nur der innere Trieb in allen von der naͤm-
lichen Staͤrke ſey. So viel auf das angeborne Genie
auch ankommt, ſo kann doch daruͤber kein Zweifel mehr
ſeyn, daß die aͤußern Umſtaͤnde den Geiſt zuruͤckhalten
und unterdruͤcken, oder hervorziehen und aufmuntern.
Vielleicht wenn ſchon ein Anfang in der Entwickelung
nach einer Richtung hin gemacht iſt, und alſo nicht mehr
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 697. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/727>, abgerufen am 25.11.2024.
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