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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
ders als unmündige Kinder anzusehen sind: so mag
man einige Befugnisse in Hinsicht auf sie mehr haben,
als man bey andern haben würde, die an Selbstthätig-
keit der Seele uns gleich sind. Aber wie weit geht denn
diese Befugniß? Man kann sie aus Menschenliebe,
ohne ihren Willen und auch wohl mit Gewalt, bezähmen
und zu Menschen, das ist, zu selbstthätigen Wesen, ma-
chen, wenn sie es nicht sind. Denn wenn sie dieß
schon sind, so würde es eine Ungerechtigkeit seyn, ihnen
etwas als eine Wohlthat mit Gewalt aufzudringen, die
sie dafür nicht erkennen können. Aber wenn sie nun so
weit gebracht sind, daß sie sich selbstthätig nach Vorstel-
lungen bestimmen und regieren: worauf ist denn das
Recht der Europäer gegründet, wenn diese sich anmas-
sen, für die auf sie verwandte Bemühung sie auf im-
mer als Sklaven zu behalten? Jst man dazu mehr
befugt, als der Vater es ist seinen Sohn, den er, bis
er volljährig ward, unter seiner Gewalt gehabt, auf
Zeitlebens unumschränkt zu beherrschen? Wenn die
Vernunft es billiget, daß man Völker, die ganz ohne
Gesetze und wild, ohne bürgerliche Regierung, leben,
durch gelinde Mittel vereinigen, in eine Staatsver-
fassung bringen und dann dafür zur Belohnung auf
immer die Oberherrschaft über sie behaupten will: so ist
doch gewiß, daß diese Befugniß weder zu weit ausge-
dehnt, noch die Beherrschung zu einem ewigen Despo-
tismus gemacht werden darf, wenn die Grenzen nicht
überschritten werden sollen. Wie erstaunlich ist aber
nicht oft die Würde der Menschheit verkannt, wo sie in
einer Farbe und unter Gestalten sich zeigte, worinn der
Europäer nicht gewohnt war sie zu sehen? Jndessen
wird wohl das Recht des Stärkern noch lange das Ge-
setz bleiben, wornach entschieden wird. Es ist der
Grundsatz der unaufgeklärten Begierden. Die Schiff-
leute auf dem Endeavour unter dem Oberbefehl des Hr.

Cook

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ders als unmuͤndige Kinder anzuſehen ſind: ſo mag
man einige Befugniſſe in Hinſicht auf ſie mehr haben,
als man bey andern haben wuͤrde, die an Selbſtthaͤtig-
keit der Seele uns gleich ſind. Aber wie weit geht denn
dieſe Befugniß? Man kann ſie aus Menſchenliebe,
ohne ihren Willen und auch wohl mit Gewalt, bezaͤhmen
und zu Menſchen, das iſt, zu ſelbſtthaͤtigen Weſen, ma-
chen, wenn ſie es nicht ſind. Denn wenn ſie dieß
ſchon ſind, ſo wuͤrde es eine Ungerechtigkeit ſeyn, ihnen
etwas als eine Wohlthat mit Gewalt aufzudringen, die
ſie dafuͤr nicht erkennen koͤnnen. Aber wenn ſie nun ſo
weit gebracht ſind, daß ſie ſich ſelbſtthaͤtig nach Vorſtel-
lungen beſtimmen und regieren: worauf iſt denn das
Recht der Europaͤer gegruͤndet, wenn dieſe ſich anmaſ-
ſen, fuͤr die auf ſie verwandte Bemuͤhung ſie auf im-
mer als Sklaven zu behalten? Jſt man dazu mehr
befugt, als der Vater es iſt ſeinen Sohn, den er, bis
er volljaͤhrig ward, unter ſeiner Gewalt gehabt, auf
Zeitlebens unumſchraͤnkt zu beherrſchen? Wenn die
Vernunft es billiget, daß man Voͤlker, die ganz ohne
Geſetze und wild, ohne buͤrgerliche Regierung, leben,
durch gelinde Mittel vereinigen, in eine Staatsver-
faſſung bringen und dann dafuͤr zur Belohnung auf
immer die Oberherrſchaft uͤber ſie behaupten will: ſo iſt
doch gewiß, daß dieſe Befugniß weder zu weit ausge-
dehnt, noch die Beherrſchung zu einem ewigen Deſpo-
tismus gemacht werden darf, wenn die Grenzen nicht
uͤberſchritten werden ſollen. Wie erſtaunlich iſt aber
nicht oft die Wuͤrde der Menſchheit verkannt, wo ſie in
einer Farbe und unter Geſtalten ſich zeigte, worinn der
Europaͤer nicht gewohnt war ſie zu ſehen? Jndeſſen
wird wohl das Recht des Staͤrkern noch lange das Ge-
ſetz bleiben, wornach entſchieden wird. Es iſt der
Grundſatz der unaufgeklaͤrten Begierden. Die Schiff-
leute auf dem Endeavour unter dem Oberbefehl des Hr.

Cook
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[690/0720] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ders als unmuͤndige Kinder anzuſehen ſind: ſo mag man einige Befugniſſe in Hinſicht auf ſie mehr haben, als man bey andern haben wuͤrde, die an Selbſtthaͤtig- keit der Seele uns gleich ſind. Aber wie weit geht denn dieſe Befugniß? Man kann ſie aus Menſchenliebe, ohne ihren Willen und auch wohl mit Gewalt, bezaͤhmen und zu Menſchen, das iſt, zu ſelbſtthaͤtigen Weſen, ma- chen, wenn ſie es nicht ſind. Denn wenn ſie dieß ſchon ſind, ſo wuͤrde es eine Ungerechtigkeit ſeyn, ihnen etwas als eine Wohlthat mit Gewalt aufzudringen, die ſie dafuͤr nicht erkennen koͤnnen. Aber wenn ſie nun ſo weit gebracht ſind, daß ſie ſich ſelbſtthaͤtig nach Vorſtel- lungen beſtimmen und regieren: worauf iſt denn das Recht der Europaͤer gegruͤndet, wenn dieſe ſich anmaſ- ſen, fuͤr die auf ſie verwandte Bemuͤhung ſie auf im- mer als Sklaven zu behalten? Jſt man dazu mehr befugt, als der Vater es iſt ſeinen Sohn, den er, bis er volljaͤhrig ward, unter ſeiner Gewalt gehabt, auf Zeitlebens unumſchraͤnkt zu beherrſchen? Wenn die Vernunft es billiget, daß man Voͤlker, die ganz ohne Geſetze und wild, ohne buͤrgerliche Regierung, leben, durch gelinde Mittel vereinigen, in eine Staatsver- faſſung bringen und dann dafuͤr zur Belohnung auf immer die Oberherrſchaft uͤber ſie behaupten will: ſo iſt doch gewiß, daß dieſe Befugniß weder zu weit ausge- dehnt, noch die Beherrſchung zu einem ewigen Deſpo- tismus gemacht werden darf, wenn die Grenzen nicht uͤberſchritten werden ſollen. Wie erſtaunlich iſt aber nicht oft die Wuͤrde der Menſchheit verkannt, wo ſie in einer Farbe und unter Geſtalten ſich zeigte, worinn der Europaͤer nicht gewohnt war ſie zu ſehen? Jndeſſen wird wohl das Recht des Staͤrkern noch lange das Ge- ſetz bleiben, wornach entſchieden wird. Es iſt der Grundſatz der unaufgeklaͤrten Begierden. Die Schiff- leute auf dem Endeavour unter dem Oberbefehl des Hr. Cook

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 690. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/720>, abgerufen am 25.11.2024.