Griechen und Römer that doch ihrer Götterlehre Ab- bruch. Hätten diese Landesreligionen mit ihrer ganzen Stärke gewirket, und wären nicht dem Princip des Fa- natismus, das, wie Sokrates Beyspiel lehret, in ihnen lag, durch eine Verwickelung mancher Umstände und durch die Vernunft der Obrigkeiten Schranken gesetzt worden, so würde die Aufklärung nie so weit gekommen seyn.
Dagegen lehrt auch die Geschichte, daß bey solchen Völkern, wo die Kultur zuerst bey andern Sachen, bey Künsten, bey der Handlung, den Gesetzen und Sitten angefangen, und von da weiter auf die tiefer liegenden Vorurtheile der Religion sich verbreitet hat, der Weg zum Ziel zwar länger gewesen und langsamer dahin geführt, aber auch nicht so mit Blut gefärbt, sondern ruhiger und sanfter gewesen sey, ohne Unordnung und Zerrüttung des Staats. Dorten ist auch die Kultur mehr unter dem Volke ausgebreitet worden. Eine Wahrheit, die den Bekehrungseifer nicht aufheben, sondern nur mäs- sigen und vernünftig machen kann. Das richtige Maß zeiget sich dem wahren Menschenfreunde von selbst, wenn es ihm nur nicht darum zu thun ist, die Mensch- heit in gewisse Formen gepreßt zu sehen, sondern dar- um, daß sie besser und glücklicher werde.
V.Von
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und Entwickelung des Menſchen.
Griechen und Roͤmer that doch ihrer Goͤtterlehre Ab- bruch. Haͤtten dieſe Landesreligionen mit ihrer ganzen Staͤrke gewirket, und waͤren nicht dem Princip des Fa- natismus, das, wie Sokrates Beyſpiel lehret, in ihnen lag, durch eine Verwickelung mancher Umſtaͤnde und durch die Vernunft der Obrigkeiten Schranken geſetzt worden, ſo wuͤrde die Aufklaͤrung nie ſo weit gekommen ſeyn.
Dagegen lehrt auch die Geſchichte, daß bey ſolchen Voͤlkern, wo die Kultur zuerſt bey andern Sachen, bey Kuͤnſten, bey der Handlung, den Geſetzen und Sitten angefangen, und von da weiter auf die tiefer liegenden Vorurtheile der Religion ſich verbreitet hat, der Weg zum Ziel zwar laͤnger geweſen und langſamer dahin gefuͤhrt, aber auch nicht ſo mit Blut gefaͤrbt, ſondern ruhiger und ſanfter geweſen ſey, ohne Unordnung und Zerruͤttung des Staats. Dorten iſt auch die Kultur mehr unter dem Volke ausgebreitet worden. Eine Wahrheit, die den Bekehrungseifer nicht aufheben, ſondern nur maͤſ- ſigen und vernuͤnftig machen kann. Das richtige Maß zeiget ſich dem wahren Menſchenfreunde von ſelbſt, wenn es ihm nur nicht darum zu thun iſt, die Menſch- heit in gewiſſe Formen gepreßt zu ſehen, ſondern dar- um, daß ſie beſſer und gluͤcklicher werde.
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und Entwickelung des Menſchen.
Griechen und Roͤmer that doch ihrer Goͤtterlehre Ab-
bruch. Haͤtten dieſe Landesreligionen mit ihrer ganzen
Staͤrke gewirket, und waͤren nicht dem Princip des Fa-
natismus, das, wie Sokrates Beyſpiel lehret, in ihnen
lag, durch eine Verwickelung mancher Umſtaͤnde und
durch die Vernunft der Obrigkeiten Schranken geſetzt
worden, ſo wuͤrde die Aufklaͤrung nie ſo weit gekommen
ſeyn.
Dagegen lehrt auch die Geſchichte, daß bey ſolchen
Voͤlkern, wo die Kultur zuerſt bey andern Sachen, bey
Kuͤnſten, bey der Handlung, den Geſetzen und Sitten
angefangen, und von da weiter auf die tiefer liegenden
Vorurtheile der Religion ſich verbreitet hat, der Weg
zum Ziel zwar laͤnger geweſen und langſamer dahin gefuͤhrt,
aber auch nicht ſo mit Blut gefaͤrbt, ſondern ruhiger und
ſanfter geweſen ſey, ohne Unordnung und Zerruͤttung
des Staats. Dorten iſt auch die Kultur mehr unter
dem Volke ausgebreitet worden. Eine Wahrheit, die
den Bekehrungseifer nicht aufheben, ſondern nur maͤſ-
ſigen und vernuͤnftig machen kann. Das richtige Maß
zeiget ſich dem wahren Menſchenfreunde von ſelbſt,
wenn es ihm nur nicht darum zu thun iſt, die Menſch-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 675. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/705>, abgerufen am 27.11.2024.
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