Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. Es ist recht gut, wenn man sagt, es sey doch schickli-cher, sie vorher zu guten und vernünftigen Menschen zu machen, ehe man sie zu Christen zu erheben suchet; wenn jenes nur nicht unmöglich wäre, ohne dieses, we- nigstens ohne ihnen die äußere Form von Christen zu geben. Die meisten sind der Lebensart, den Sitten und dem Zwang der Gesetze bey gesitteten Völkern eben so abgeneigt, als ihren Religionslehren. Jene macht in ihren Augen eine Sklaverey aus. Jst nun ihre Reli- gion etwas verbessert, so ist doch ihre moralische Seite in etwas rege gemacht, und es entstehen Empfindungen und Ueberlegungen, die neue Arten von Bedürfnissen, von Begierden und ihrer Befriedigung verursachen, wodurch der Geschmack an der mehr zusammengesetzten Lebensart und an den moralischen Beziehungen der Bürger in po- lizirten Gesellschaften vorbereitet wird. Ohne Zweifel kann die Kultur in umgekehrter Ordnung geschehen. Wären sie vorher an Sitten, Verfassungen, Gewerbe und Kenntnisse der polizirten Völker gewöhnt, so wä- re auch der Weg geöfnet zur Berichtigung der Religions- begriffe. Nur ist die Frage, ob der Plan, nach der erstern oder nach der letztern Ordnung, besonders die Wilden, zu bearbeiten, der leichteste und der zuverlässig- ste sey? Vielleicht in den meisten Fällen nach der erstern. Es muß in Wahrheit schwer seyn, den rohen und freyen Wilden, der wenig Bedürfnisse fühlet und diesen leicht abhilft, der sich durch seine Musik, und seine Tänze, und durch sein Schmauchen zu ergötzen weiß, aus seiner trä- gen Unabhängigkeit herauszuziehen, und ihn durch die Vergnügungen, die man seinen Sinnen und seiner Ein- bildungskraft in polizirten Verfassungen verschaffen kann, mächtig genug zu rühren, um diese mit ihren Unbe- quemlichkeiten für die seinigen zu vertauschen. *) Da ist noch *) So fand es Carl Beatty, ein vernünftiger Missionair, der II Theil. U u
und Entwickelung des Menſchen. Es iſt recht gut, wenn man ſagt, es ſey doch ſchickli-cher, ſie vorher zu guten und vernuͤnftigen Menſchen zu machen, ehe man ſie zu Chriſten zu erheben ſuchet; wenn jenes nur nicht unmoͤglich waͤre, ohne dieſes, we- nigſtens ohne ihnen die aͤußere Form von Chriſten zu geben. Die meiſten ſind der Lebensart, den Sitten und dem Zwang der Geſetze bey geſitteten Voͤlkern eben ſo abgeneigt, als ihren Religionslehren. Jene macht in ihren Augen eine Sklaverey aus. Jſt nun ihre Reli- gion etwas verbeſſert, ſo iſt doch ihre moraliſche Seite in etwas rege gemacht, und es entſtehen Empfindungen und Ueberlegungen, die neue Arten von Beduͤrfniſſen, von Begierden und ihrer Befriedigung verurſachen, wodurch der Geſchmack an der mehr zuſammengeſetzten Lebensart und an den moraliſchen Beziehungen der Buͤrger in po- lizirten Geſellſchaften vorbereitet wird. Ohne Zweifel kann die Kultur in umgekehrter Ordnung geſchehen. Waͤren ſie vorher an Sitten, Verfaſſungen, Gewerbe und Kenntniſſe der polizirten Voͤlker gewoͤhnt, ſo waͤ- re auch der Weg geoͤfnet zur Berichtigung der Religions- begriffe. Nur iſt die Frage, ob der Plan, nach der erſtern oder nach der letztern Ordnung, beſonders die Wilden, zu bearbeiten, der leichteſte und der zuverlaͤſſig- ſte ſey? Vielleicht in den meiſten Faͤllen nach der erſtern. Es muß in Wahrheit ſchwer ſeyn, den rohen und freyen Wilden, der wenig Beduͤrfniſſe fuͤhlet und dieſen leicht abhilft, der ſich durch ſeine Muſik, und ſeine Taͤnze, und durch ſein Schmauchen zu ergoͤtzen weiß, aus ſeiner traͤ- gen Unabhaͤngigkeit herauszuziehen, und ihn durch die Vergnuͤgungen, die man ſeinen Sinnen und ſeiner Ein- bildungskraft in polizirten Verfaſſungen verſchaffen kann, maͤchtig genug zu ruͤhren, um dieſe mit ihren Unbe- quemlichkeiten fuͤr die ſeinigen zu vertauſchen. *) Da iſt noch *) So fand es Carl Beatty, ein vernuͤnftiger Miſſionair, der II Theil. U u
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und Entwickelung des Menſchen.
Es iſt recht gut, wenn man ſagt, es ſey doch ſchickli-
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machen, ehe man ſie zu Chriſten zu erheben ſuchet;
wenn jenes nur nicht unmoͤglich waͤre, ohne dieſes, we-
nigſtens ohne ihnen die aͤußere Form von Chriſten zu
geben. Die meiſten ſind der Lebensart, den Sitten
und dem Zwang der Geſetze bey geſitteten Voͤlkern eben
ſo abgeneigt, als ihren Religionslehren. Jene macht in
ihren Augen eine Sklaverey aus. Jſt nun ihre Reli-
gion etwas verbeſſert, ſo iſt doch ihre moraliſche Seite
in etwas rege gemacht, und es entſtehen Empfindungen
und Ueberlegungen, die neue Arten von Beduͤrfniſſen, von
Begierden und ihrer Befriedigung verurſachen, wodurch
der Geſchmack an der mehr zuſammengeſetzten Lebensart
und an den moraliſchen Beziehungen der Buͤrger in po-
lizirten Geſellſchaften vorbereitet wird. Ohne Zweifel
kann die Kultur in umgekehrter Ordnung geſchehen.
Waͤren ſie vorher an Sitten, Verfaſſungen, Gewerbe
und Kenntniſſe der polizirten Voͤlker gewoͤhnt, ſo waͤ-
re auch der Weg geoͤfnet zur Berichtigung der Religions-
begriffe. Nur iſt die Frage, ob der Plan, nach der
erſtern oder nach der letztern Ordnung, beſonders die
Wilden, zu bearbeiten, der leichteſte und der zuverlaͤſſig-
ſte ſey? Vielleicht in den meiſten Faͤllen nach der erſtern.
Es muß in Wahrheit ſchwer ſeyn, den rohen und freyen
Wilden, der wenig Beduͤrfniſſe fuͤhlet und dieſen leicht
abhilft, der ſich durch ſeine Muſik, und ſeine Taͤnze, und
durch ſein Schmauchen zu ergoͤtzen weiß, aus ſeiner traͤ-
gen Unabhaͤngigkeit herauszuziehen, und ihn durch die
Vergnuͤgungen, die man ſeinen Sinnen und ſeiner Ein-
bildungskraft in polizirten Verfaſſungen verſchaffen kann,
maͤchtig genug zu ruͤhren, um dieſe mit ihren Unbe-
quemlichkeiten fuͤr die ſeinigen zu vertauſchen. *) Da iſt
noch
*) So fand es Carl Beatty, ein vernuͤnftiger Miſſionair,
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