Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
soferne sie wahr ist, neugieriger und nachforschender,
oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, weiser, klüger,
gerechter, mäßiger, gefälliger, freundschaftlicher? Es
ist der unauslöschliche Vorzug der Wahrheit, daß sie
zu diesen glücklichen Wirkungen die Ursache enthalte;
aber so sie genommen, wie sie in den meisten Menschen
ist, hat sie diese Folgen nicht so, daß der Jrrthum sie
auch nicht haben könnte.

Worinnen bestehet nun, wo es so ist, ihre Vorzüg-
lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die sie
an sich haben kann, künftig haben wird, aber gegen-
wärtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal
eine völlige Berichtigung des Verstandes bewirkt wer-
den soll, die wahre Einsicht ungeändert bleibet, die fal-
sche aber weggeschafft werden muß. Sonsten hängt alles
davon ab, wie weit beide Erkenntnisse vielbefassende
Modifikationen der Seele sind, oder sich auf größere
oder schwächere Kräfte beziehen.

Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten ist, der
dem Menschen aus dem Besitz der Wahrheit erwächset,
so ist zwar davon die Rede nicht, ob sie nicht auch zu-
weilen unter zufälligen Umständen weniger nützlich wer-
den könne, als der Jrrthum, und sogar schädlicher;
allein dennoch muß diese Betrachtung nicht ganz über-
gangen werden, wenn man sich genugsam gegen die einsei-
tigen Urtheile derer verwahren will, die den Jrrthum
im Verstande für eine weit größere Unvollkommenheit
halten, als die Schwäche der Kräfte, und als, bis
wohin einige wirklich gegangen sind, die Verstimmung
des Herzens und der Begierden. Die Geschichte leh-
ret es, daß die fruchtbarsten Wahrheiten durch beyge-
mischte Jrrthümer und durch äußere Umstände, die die
Seele bestimmen, ersticken, verderben und schädlich
werden, und so oft bey ganzen Völkern es geworden
sind. Hingegen haben Jrrthümer, Vorurtheile und

Aber-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ſoferne ſie wahr iſt, neugieriger und nachforſchender,
oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, weiſer, kluͤger,
gerechter, maͤßiger, gefaͤlliger, freundſchaftlicher? Es
iſt der unausloͤſchliche Vorzug der Wahrheit, daß ſie
zu dieſen gluͤcklichen Wirkungen die Urſache enthalte;
aber ſo ſie genommen, wie ſie in den meiſten Menſchen
iſt, hat ſie dieſe Folgen nicht ſo, daß der Jrrthum ſie
auch nicht haben koͤnnte.

Worinnen beſtehet nun, wo es ſo iſt, ihre Vorzuͤg-
lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die ſie
an ſich haben kann, kuͤnftig haben wird, aber gegen-
waͤrtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal
eine voͤllige Berichtigung des Verſtandes bewirkt wer-
den ſoll, die wahre Einſicht ungeaͤndert bleibet, die fal-
ſche aber weggeſchafft werden muß. Sonſten haͤngt alles
davon ab, wie weit beide Erkenntniſſe vielbefaſſende
Modifikationen der Seele ſind, oder ſich auf groͤßere
oder ſchwaͤchere Kraͤfte beziehen.

Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten iſt, der
dem Menſchen aus dem Beſitz der Wahrheit erwaͤchſet,
ſo iſt zwar davon die Rede nicht, ob ſie nicht auch zu-
weilen unter zufaͤlligen Umſtaͤnden weniger nuͤtzlich wer-
den koͤnne, als der Jrrthum, und ſogar ſchaͤdlicher;
allein dennoch muß dieſe Betrachtung nicht ganz uͤber-
gangen werden, wenn man ſich genugſam gegen die einſei-
tigen Urtheile derer verwahren will, die den Jrrthum
im Verſtande fuͤr eine weit groͤßere Unvollkommenheit
halten, als die Schwaͤche der Kraͤfte, und als, bis
wohin einige wirklich gegangen ſind, die Verſtimmung
des Herzens und der Begierden. Die Geſchichte leh-
ret es, daß die fruchtbarſten Wahrheiten durch beyge-
miſchte Jrrthuͤmer und durch aͤußere Umſtaͤnde, die die
Seele beſtimmen, erſticken, verderben und ſchaͤdlich
werden, und ſo oft bey ganzen Voͤlkern es geworden
ſind. Hingegen haben Jrrthuͤmer, Vorurtheile und

Aber-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0698" n="668"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIV.</hi> Ver&#x017F;. Ueber die Perfektibilita&#x0364;t</hi></fw><lb/>
&#x017F;oferne &#x017F;ie wahr i&#x017F;t, neugieriger und nachfor&#x017F;chender,<lb/>
oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, wei&#x017F;er, klu&#x0364;ger,<lb/>
gerechter, ma&#x0364;ßiger, gefa&#x0364;lliger, freund&#x017F;chaftlicher? Es<lb/>
i&#x017F;t der unauslo&#x0364;&#x017F;chliche Vorzug der Wahrheit, daß &#x017F;ie<lb/>
zu die&#x017F;en glu&#x0364;cklichen Wirkungen die Ur&#x017F;ache enthalte;<lb/>
aber &#x017F;o &#x017F;ie genommen, wie &#x017F;ie in den mei&#x017F;ten Men&#x017F;chen<lb/>
i&#x017F;t, hat &#x017F;ie die&#x017F;e Folgen nicht &#x017F;o, daß der Jrrthum &#x017F;ie<lb/>
auch nicht haben ko&#x0364;nnte.</p><lb/>
              <p>Worinnen be&#x017F;tehet nun, wo es &#x017F;o i&#x017F;t, ihre Vorzu&#x0364;g-<lb/>
lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die &#x017F;ie<lb/>
an &#x017F;ich haben kann, ku&#x0364;nftig haben wird, aber gegen-<lb/>
wa&#x0364;rtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal<lb/>
eine vo&#x0364;llige Berichtigung des Ver&#x017F;tandes bewirkt wer-<lb/>
den &#x017F;oll, die wahre Ein&#x017F;icht ungea&#x0364;ndert bleibet, die fal-<lb/>
&#x017F;che aber wegge&#x017F;chafft werden muß. Son&#x017F;ten ha&#x0364;ngt alles<lb/>
davon ab, wie weit beide Erkenntni&#x017F;&#x017F;e vielbefa&#x017F;&#x017F;ende<lb/>
Modifikationen der Seele &#x017F;ind, oder &#x017F;ich auf gro&#x0364;ßere<lb/>
oder &#x017F;chwa&#x0364;chere Kra&#x0364;fte beziehen.</p><lb/>
              <p>Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten i&#x017F;t, der<lb/>
dem Men&#x017F;chen aus dem Be&#x017F;itz der Wahrheit erwa&#x0364;ch&#x017F;et,<lb/>
&#x017F;o i&#x017F;t zwar davon die Rede nicht, ob &#x017F;ie nicht auch zu-<lb/>
weilen unter zufa&#x0364;lligen Um&#x017F;ta&#x0364;nden weniger nu&#x0364;tzlich wer-<lb/>
den ko&#x0364;nne, als der Jrrthum, und &#x017F;ogar &#x017F;cha&#x0364;dlicher;<lb/>
allein dennoch muß die&#x017F;e Betrachtung nicht ganz u&#x0364;ber-<lb/>
gangen werden, wenn man &#x017F;ich genug&#x017F;am gegen die ein&#x017F;ei-<lb/>
tigen Urtheile derer verwahren will, die den Jrrthum<lb/>
im Ver&#x017F;tande fu&#x0364;r eine weit gro&#x0364;ßere Unvollkommenheit<lb/>
halten, als die Schwa&#x0364;che der Kra&#x0364;fte, und als, bis<lb/>
wohin einige wirklich gegangen &#x017F;ind, die Ver&#x017F;timmung<lb/>
des Herzens und der Begierden. Die Ge&#x017F;chichte leh-<lb/>
ret es, daß die fruchtbar&#x017F;ten Wahrheiten durch beyge-<lb/>
mi&#x017F;chte Jrrthu&#x0364;mer und durch a&#x0364;ußere Um&#x017F;ta&#x0364;nde, die die<lb/>
Seele be&#x017F;timmen, er&#x017F;ticken, verderben und &#x017F;cha&#x0364;dlich<lb/>
werden, und &#x017F;o oft bey ganzen Vo&#x0364;lkern es geworden<lb/>
&#x017F;ind. Hingegen haben Jrrthu&#x0364;mer, Vorurtheile und<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Aber-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[668/0698] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ſoferne ſie wahr iſt, neugieriger und nachforſchender, oder zufriedener, ruhiger, muthvoller, weiſer, kluͤger, gerechter, maͤßiger, gefaͤlliger, freundſchaftlicher? Es iſt der unausloͤſchliche Vorzug der Wahrheit, daß ſie zu dieſen gluͤcklichen Wirkungen die Urſache enthalte; aber ſo ſie genommen, wie ſie in den meiſten Menſchen iſt, hat ſie dieſe Folgen nicht ſo, daß der Jrrthum ſie auch nicht haben koͤnnte. Worinnen beſtehet nun, wo es ſo iſt, ihre Vorzuͤg- lichkeit vor dem Jrrthum, als in den Folgen, die ſie an ſich haben kann, kuͤnftig haben wird, aber gegen- waͤrtig doch nicht hat, und darinn, daß, wenn einmal eine voͤllige Berichtigung des Verſtandes bewirkt wer- den ſoll, die wahre Einſicht ungeaͤndert bleibet, die fal- ſche aber weggeſchafft werden muß. Sonſten haͤngt alles davon ab, wie weit beide Erkenntniſſe vielbefaſſende Modifikationen der Seele ſind, oder ſich auf groͤßere oder ſchwaͤchere Kraͤfte beziehen. Wenn hier nur der Vorzug zu betrachten iſt, der dem Menſchen aus dem Beſitz der Wahrheit erwaͤchſet, ſo iſt zwar davon die Rede nicht, ob ſie nicht auch zu- weilen unter zufaͤlligen Umſtaͤnden weniger nuͤtzlich wer- den koͤnne, als der Jrrthum, und ſogar ſchaͤdlicher; allein dennoch muß dieſe Betrachtung nicht ganz uͤber- gangen werden, wenn man ſich genugſam gegen die einſei- tigen Urtheile derer verwahren will, die den Jrrthum im Verſtande fuͤr eine weit groͤßere Unvollkommenheit halten, als die Schwaͤche der Kraͤfte, und als, bis wohin einige wirklich gegangen ſind, die Verſtimmung des Herzens und der Begierden. Die Geſchichte leh- ret es, daß die fruchtbarſten Wahrheiten durch beyge- miſchte Jrrthuͤmer und durch aͤußere Umſtaͤnde, die die Seele beſtimmen, erſticken, verderben und ſchaͤdlich werden, und ſo oft bey ganzen Voͤlkern es geworden ſind. Hingegen haben Jrrthuͤmer, Vorurtheile und Aber-

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/698
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 668. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/698>, abgerufen am 22.11.2024.