"wir sie als verschiedene Grade oder Stufen einer und "derselbigen absoluten Realität betrachten."
Dieß reichet bey weitem nicht hin verschiedenartige Genies zu vergleichen, wie in den erwähnten Fällen. Jn jedem Genie wirken alle Kräfte der Seele zusam- men. Die Grundkraft ist überall beschäfftiget, nur daß die Seiten verschieden sind, an denen sie hervorgehet. Sie wirket hier in größerer Ausdehnung, dort mit größerer Stärke, dort hält sie länger an. Wenn Sha- kespear eine Welt von Bildern, und von weitbefas- senden Bildern bearbeiten, und nicht bloß mit der Vor- stellungskraft bearbeiten, sondern auch mit der Reflexion Licht und Deutlichkeit in sie bringen, und ihre entfern- testen und versteckten Aehnlichkeiten mit einem Blick gewahrnehmen soll: so muß Newtons Geist die zwar feinern, aber auch einfachern, Begriffe des Verstandes anhaltend und mit großer intensiver Stärke auseinan- derlösen. Wo ist hier ein Maßstab, die Größe der Wirk- samkeit in beiden zu messen und zu sagen, wo mehr oder weniger ist? Nur wenn die ganze Wirksamkeit im menschlichen Seelenwesen in beiden gleich wäre, so könnte man hinzusetzen, es sey die Selbstthätigkeit der unkörperlichen Seele in dem letztern größer als in dem erstern. Wenn man |dem feinen Gefühl und dem großen Beobachtungsgeist, ingleichen dem Vorzug am Gedächtniß, Gerechtigkeit widerfahren lassen will: so muß auf eine ähnliche Art auf alle Dimensionen, wor- innen die Grundkraft sich dabey beweiset, gesehen wer- den. Ueberhaupt erhellet hieraus, daß es noch wohl angehe, ein Genie einer Art mit einem Genie derselbigen Art zu vergleichen; das Empfindsame mit dem Empfind- samen; ein Dichtergenie mit einem andern; ein philo- phisches mit einem philosophischen, und ein thätiges mit einem thätigen. Diese Vollkommenheiten sind homogen. Aber ungleichartige Vorzüge können nicht anders gegen-
einander
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und Entwickelung des Menſchen.
„wir ſie als verſchiedene Grade oder Stufen einer und „derſelbigen abſoluten Realitaͤt betrachten.‟
Dieß reichet bey weitem nicht hin verſchiedenartige Genies zu vergleichen, wie in den erwaͤhnten Faͤllen. Jn jedem Genie wirken alle Kraͤfte der Seele zuſam- men. Die Grundkraft iſt uͤberall beſchaͤfftiget, nur daß die Seiten verſchieden ſind, an denen ſie hervorgehet. Sie wirket hier in groͤßerer Ausdehnung, dort mit groͤßerer Staͤrke, dort haͤlt ſie laͤnger an. Wenn Sha- keſpear eine Welt von Bildern, und von weitbefaſ- ſenden Bildern bearbeiten, und nicht bloß mit der Vor- ſtellungskraft bearbeiten, ſondern auch mit der Reflexion Licht und Deutlichkeit in ſie bringen, und ihre entfern- teſten und verſteckten Aehnlichkeiten mit einem Blick gewahrnehmen ſoll: ſo muß Newtons Geiſt die zwar feinern, aber auch einfachern, Begriffe des Verſtandes anhaltend und mit großer intenſiver Staͤrke auseinan- derloͤſen. Wo iſt hier ein Maßſtab, die Groͤße der Wirk- ſamkeit in beiden zu meſſen und zu ſagen, wo mehr oder weniger iſt? Nur wenn die ganze Wirkſamkeit im menſchlichen Seelenweſen in beiden gleich waͤre, ſo koͤnnte man hinzuſetzen, es ſey die Selbſtthaͤtigkeit der unkoͤrperlichen Seele in dem letztern groͤßer als in dem erſtern. Wenn man |dem feinen Gefuͤhl und dem großen Beobachtungsgeiſt, ingleichen dem Vorzug am Gedaͤchtniß, Gerechtigkeit widerfahren laſſen will: ſo muß auf eine aͤhnliche Art auf alle Dimenſionen, wor- innen die Grundkraft ſich dabey beweiſet, geſehen wer- den. Ueberhaupt erhellet hieraus, daß es noch wohl angehe, ein Genie einer Art mit einem Genie derſelbigen Art zu vergleichen; das Empfindſame mit dem Empfind- ſamen; ein Dichtergenie mit einem andern; ein philo- phiſches mit einem philoſophiſchen, und ein thaͤtiges mit einem thaͤtigen. Dieſe Vollkommenheiten ſind homogen. Aber ungleichartige Vorzuͤge koͤnnen nicht anders gegen-
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und Entwickelung des Menſchen.
„wir ſie als verſchiedene Grade oder Stufen einer und
„derſelbigen abſoluten Realitaͤt betrachten.‟
Dieß reichet bey weitem nicht hin verſchiedenartige
Genies zu vergleichen, wie in den erwaͤhnten Faͤllen.
Jn jedem Genie wirken alle Kraͤfte der Seele zuſam-
men. Die Grundkraft iſt uͤberall beſchaͤfftiget, nur daß
die Seiten verſchieden ſind, an denen ſie hervorgehet.
Sie wirket hier in groͤßerer Ausdehnung, dort mit
groͤßerer Staͤrke, dort haͤlt ſie laͤnger an. Wenn Sha-
keſpear eine Welt von Bildern, und von weitbefaſ-
ſenden Bildern bearbeiten, und nicht bloß mit der Vor-
ſtellungskraft bearbeiten, ſondern auch mit der Reflexion
Licht und Deutlichkeit in ſie bringen, und ihre entfern-
teſten und verſteckten Aehnlichkeiten mit einem Blick
gewahrnehmen ſoll: ſo muß Newtons Geiſt die zwar
feinern, aber auch einfachern, Begriffe des Verſtandes
anhaltend und mit großer intenſiver Staͤrke auseinan-
derloͤſen. Wo iſt hier ein Maßſtab, die Groͤße der Wirk-
ſamkeit in beiden zu meſſen und zu ſagen, wo mehr oder
weniger iſt? Nur wenn die ganze Wirkſamkeit im
menſchlichen Seelenweſen in beiden gleich waͤre, ſo
koͤnnte man hinzuſetzen, es ſey die Selbſtthaͤtigkeit der
unkoͤrperlichen Seele in dem letztern groͤßer als in dem
erſtern. Wenn man |dem feinen Gefuͤhl und dem
großen Beobachtungsgeiſt, ingleichen dem Vorzug am
Gedaͤchtniß, Gerechtigkeit widerfahren laſſen will: ſo
muß auf eine aͤhnliche Art auf alle Dimenſionen, wor-
innen die Grundkraft ſich dabey beweiſet, geſehen wer-
den. Ueberhaupt erhellet hieraus, daß es noch wohl
angehe, ein Genie einer Art mit einem Genie derſelbigen
Art zu vergleichen; das Empfindſame mit dem Empfind-
ſamen; ein Dichtergenie mit einem andern; ein philo-
phiſches mit einem philoſophiſchen, und ein thaͤtiges mit
einem thaͤtigen. Dieſe Vollkommenheiten ſind homogen.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 661. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/691>, abgerufen am 27.11.2024.
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