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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
thätigen Kraft auf die Zufriedenheit und auf das Wohl
der Menschen. Eine solche natürliche oder erworbene
Stimmung in dem Jnnern ist und bleibet, für sich selbst
betrachtet, eine Vollkommenheit, ist eine Ursache ange-
nehmer Empfindungen, und also in mehr als einer Hin-
sicht eine Realität des Menschen. Jst sie erworben,
mehr als bloßes natürliches Verhältniß, so ist sie eine
Wirkung erhöheter Selbstthätigkeit, und enthält also
auch das erste Stück der Tugend. Fehlet sie, so ist
dieß ein sichrer Beweis, daß die Leidenschaft regieret
und der Geist schwach ist. Denn auch die großen klu-
gen Bösewichter sind im Jnnern zerrüttet, und an der
vornehmsten Seite der Seele Ohnmächtige, physisch
Schwache. Bosheit ist wahre Schwäche an Selbst-
thätigkeit. Und dennoch macht diese Gutartigkeit das
Reelle der Tugend nicht aus. Es kann sogar, wo sie
allein ohne Selbstthätigkeit ist, eine Quelle von Unvoll-
kommenheiten und Uebeln seyn. Jst natürliche Gutar-
tigkeit da, so ist ein besserer Boden da für die Tugend.
Wo von Natur ein feineres Gefühl ist, da sprießt auch
die natürliche Humanität hervor, die den Menschen zu
vielen Tugendfertigkeiten näher aufgelegt macht, als an-
dere es ihrer natürlichen oder von Jugend auf ihnen ein-
gepflanzten Hartherzigkeit wegen nicht sind. Man kann
dieselbige Erinnerung bey allen besondern Tugenden, bey
dem Muth, der Gerechtigkeit, der Mäßigkeit u. s. f.
wiederholen. So eine glückliche Sache die näher da-
hin führenden Anlagen der Natur sind, so sind diese für
sich doch nur gewisse Formen des Kopfs und des Her-
zens, die auf gewissen festgesetzten Jdeenassociationen
beruhen, wie die Gewohnheiten. Und insoferne sie nur
dieß sind, gehören sie eben so viel zu der Organisation,
als zu der Seele selbst, die dadurch noch keine innere
vorzügliche Größe an Selbstmacht besitzet. Jch rede
nicht von der Schwäche der menschlichen Tugend, son-

dern
II Band. T t

und Entwickelung des Menſchen.
thaͤtigen Kraft auf die Zufriedenheit und auf das Wohl
der Menſchen. Eine ſolche natuͤrliche oder erworbene
Stimmung in dem Jnnern iſt und bleibet, fuͤr ſich ſelbſt
betrachtet, eine Vollkommenheit, iſt eine Urſache ange-
nehmer Empfindungen, und alſo in mehr als einer Hin-
ſicht eine Realitaͤt des Menſchen. Jſt ſie erworben,
mehr als bloßes natuͤrliches Verhaͤltniß, ſo iſt ſie eine
Wirkung erhoͤheter Selbſtthaͤtigkeit, und enthaͤlt alſo
auch das erſte Stuͤck der Tugend. Fehlet ſie, ſo iſt
dieß ein ſichrer Beweis, daß die Leidenſchaft regieret
und der Geiſt ſchwach iſt. Denn auch die großen klu-
gen Boͤſewichter ſind im Jnnern zerruͤttet, und an der
vornehmſten Seite der Seele Ohnmaͤchtige, phyſiſch
Schwache. Bosheit iſt wahre Schwaͤche an Selbſt-
thaͤtigkeit. Und dennoch macht dieſe Gutartigkeit das
Reelle der Tugend nicht aus. Es kann ſogar, wo ſie
allein ohne Selbſtthaͤtigkeit iſt, eine Quelle von Unvoll-
kommenheiten und Uebeln ſeyn. Jſt natuͤrliche Gutar-
tigkeit da, ſo iſt ein beſſerer Boden da fuͤr die Tugend.
Wo von Natur ein feineres Gefuͤhl iſt, da ſprießt auch
die natuͤrliche Humanitaͤt hervor, die den Menſchen zu
vielen Tugendfertigkeiten naͤher aufgelegt macht, als an-
dere es ihrer natuͤrlichen oder von Jugend auf ihnen ein-
gepflanzten Hartherzigkeit wegen nicht ſind. Man kann
dieſelbige Erinnerung bey allen beſondern Tugenden, bey
dem Muth, der Gerechtigkeit, der Maͤßigkeit u. ſ. f.
wiederholen. So eine gluͤckliche Sache die naͤher da-
hin fuͤhrenden Anlagen der Natur ſind, ſo ſind dieſe fuͤr
ſich doch nur gewiſſe Formen des Kopfs und des Her-
zens, die auf gewiſſen feſtgeſetzten Jdeenaſſociationen
beruhen, wie die Gewohnheiten. Und inſoferne ſie nur
dieß ſind, gehoͤren ſie eben ſo viel zu der Organiſation,
als zu der Seele ſelbſt, die dadurch noch keine innere
vorzuͤgliche Groͤße an Selbſtmacht beſitzet. Jch rede
nicht von der Schwaͤche der menſchlichen Tugend, ſon-

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II Band. T t
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[657/0687] und Entwickelung des Menſchen. thaͤtigen Kraft auf die Zufriedenheit und auf das Wohl der Menſchen. Eine ſolche natuͤrliche oder erworbene Stimmung in dem Jnnern iſt und bleibet, fuͤr ſich ſelbſt betrachtet, eine Vollkommenheit, iſt eine Urſache ange- nehmer Empfindungen, und alſo in mehr als einer Hin- ſicht eine Realitaͤt des Menſchen. Jſt ſie erworben, mehr als bloßes natuͤrliches Verhaͤltniß, ſo iſt ſie eine Wirkung erhoͤheter Selbſtthaͤtigkeit, und enthaͤlt alſo auch das erſte Stuͤck der Tugend. Fehlet ſie, ſo iſt dieß ein ſichrer Beweis, daß die Leidenſchaft regieret und der Geiſt ſchwach iſt. Denn auch die großen klu- gen Boͤſewichter ſind im Jnnern zerruͤttet, und an der vornehmſten Seite der Seele Ohnmaͤchtige, phyſiſch Schwache. Bosheit iſt wahre Schwaͤche an Selbſt- thaͤtigkeit. Und dennoch macht dieſe Gutartigkeit das Reelle der Tugend nicht aus. Es kann ſogar, wo ſie allein ohne Selbſtthaͤtigkeit iſt, eine Quelle von Unvoll- kommenheiten und Uebeln ſeyn. Jſt natuͤrliche Gutar- tigkeit da, ſo iſt ein beſſerer Boden da fuͤr die Tugend. Wo von Natur ein feineres Gefuͤhl iſt, da ſprießt auch die natuͤrliche Humanitaͤt hervor, die den Menſchen zu vielen Tugendfertigkeiten naͤher aufgelegt macht, als an- dere es ihrer natuͤrlichen oder von Jugend auf ihnen ein- gepflanzten Hartherzigkeit wegen nicht ſind. Man kann dieſelbige Erinnerung bey allen beſondern Tugenden, bey dem Muth, der Gerechtigkeit, der Maͤßigkeit u. ſ. f. wiederholen. So eine gluͤckliche Sache die naͤher da- hin fuͤhrenden Anlagen der Natur ſind, ſo ſind dieſe fuͤr ſich doch nur gewiſſe Formen des Kopfs und des Her- zens, die auf gewiſſen feſtgeſetzten Jdeenaſſociationen beruhen, wie die Gewohnheiten. Und inſoferne ſie nur dieß ſind, gehoͤren ſie eben ſo viel zu der Organiſation, als zu der Seele ſelbſt, die dadurch noch keine innere vorzuͤgliche Groͤße an Selbſtmacht beſitzet. Jch rede nicht von der Schwaͤche der menſchlichen Tugend, ſon- dern II Band. T t

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 657. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/687>, abgerufen am 26.11.2024.