ben als die selbstthätige Tugend, so ist es doch außer Zweifel, daß die letztere im Ganzen einen so viel größern Grad an Selbstmacht der Seele enthalte, als mehr da- zu erfodert wird, anschauliche Jdeenreihen von interessi- renden Objekten zu erwecken und, wie es dienlich ist, zu verdunkeln, und dann die aufsteigenden Triebe der thäti- gen Kraft einzuschränken, zurückzuhalten und zu unter- drücken, nachdem erkannte Pflicht und Rechtschaffen- heit es heischet, als zu den Beschäftigungen des Dich- ters und den Spekulationen des Philosophen nicht nöthig ist. Die gemeine Sentenz: wer sich selbst bezwingen könne, sey stärker als der, der Völker überwindet und Vestungen erobert, enthält eine große psychologische Wahrheit.
Die Kunst sich zu verstellen, die in der Ge- schicklichkeit bestehet, die Ausbrüche der innern Gesin- nungen und Begierden in Worten, in Mienen, Augen- bewegungen und Geberden zurückzuhalten, ersodert alsdenn, wenn der Affekt in dem Jnnern schnell entsteht, ohne Zweifel eine vorzügliche Gegenwart des Geistes. Es soll ein Strom in seinem Lauf gehemmet werden, der sich mit Heftigkeit ergießet. Jn so weit ist die Ver- stellungskunst eine große Kunst. Eine Unwahrheit in Worten zu sagen ist leicht; aber die Augen und das Gesicht etwas anders sagen lassen, als in der Seele ge- genwärtig ist, erfodert zugleich eine Gewalt über die Vorstellungen, deren Gegenwart verhindert werden muß. Aber dennoch hängt die ganze innere Größe dieser Kunst bloß von der Gewalt über sich selbst ab, welche sie erfo- dert. So ferne ist sie der Tugend ähnlich. Aber diese Aehnlichkeit liegt auch nur oben auf, und ist nichts mehr als eine Larvenähnlichkeit. Die Gewalt über die äußern Ausbrüche der Leidenschaften ist das Wenigste von der Gewalt über die Leidenschaften selbst. Sie hat die Tiefe und Stärke der letztern nicht, und ist so schwer nicht zu
erler-
und Entwickelung des Menſchen.
ben als die ſelbſtthaͤtige Tugend, ſo iſt es doch außer Zweifel, daß die letztere im Ganzen einen ſo viel groͤßern Grad an Selbſtmacht der Seele enthalte, als mehr da- zu erfodert wird, anſchauliche Jdeenreihen von intereſſi- renden Objekten zu erwecken und, wie es dienlich iſt, zu verdunkeln, und dann die aufſteigenden Triebe der thaͤti- gen Kraft einzuſchraͤnken, zuruͤckzuhalten und zu unter- druͤcken, nachdem erkannte Pflicht und Rechtſchaffen- heit es heiſchet, als zu den Beſchaͤftigungen des Dich- ters und den Spekulationen des Philoſophen nicht noͤthig iſt. Die gemeine Sentenz: wer ſich ſelbſt bezwingen koͤnne, ſey ſtaͤrker als der, der Voͤlker uͤberwindet und Veſtungen erobert, enthaͤlt eine große pſychologiſche Wahrheit.
Die Kunſt ſich zu verſtellen, die in der Ge- ſchicklichkeit beſtehet, die Ausbruͤche der innern Geſin- nungen und Begierden in Worten, in Mienen, Augen- bewegungen und Geberden zuruͤckzuhalten, erſodert alsdenn, wenn der Affekt in dem Jnnern ſchnell entſteht, ohne Zweifel eine vorzuͤgliche Gegenwart des Geiſtes. Es ſoll ein Strom in ſeinem Lauf gehemmet werden, der ſich mit Heftigkeit ergießet. Jn ſo weit iſt die Ver- ſtellungskunſt eine große Kunſt. Eine Unwahrheit in Worten zu ſagen iſt leicht; aber die Augen und das Geſicht etwas anders ſagen laſſen, als in der Seele ge- genwaͤrtig iſt, erfodert zugleich eine Gewalt uͤber die Vorſtellungen, deren Gegenwart verhindert werden muß. Aber dennoch haͤngt die ganze innere Groͤße dieſer Kunſt bloß von der Gewalt uͤber ſich ſelbſt ab, welche ſie erfo- dert. So ferne iſt ſie der Tugend aͤhnlich. Aber dieſe Aehnlichkeit liegt auch nur oben auf, und iſt nichts mehr als eine Larvenaͤhnlichkeit. Die Gewalt uͤber die aͤußern Ausbruͤche der Leidenſchaften iſt das Wenigſte von der Gewalt uͤber die Leidenſchaften ſelbſt. Sie hat die Tiefe und Staͤrke der letztern nicht, und iſt ſo ſchwer nicht zu
erler-
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0685"n="655"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#b">und Entwickelung des Menſchen.</hi></fw><lb/>
ben als die ſelbſtthaͤtige Tugend, ſo iſt es doch außer<lb/>
Zweifel, daß die letztere im Ganzen einen ſo viel groͤßern<lb/>
Grad an Selbſtmacht der Seele enthalte, als mehr da-<lb/>
zu erfodert wird, anſchauliche Jdeenreihen von intereſſi-<lb/>
renden Objekten zu erwecken und, wie es dienlich iſt, zu<lb/>
verdunkeln, und dann die aufſteigenden Triebe der thaͤti-<lb/>
gen Kraft einzuſchraͤnken, zuruͤckzuhalten und zu unter-<lb/>
druͤcken, nachdem erkannte Pflicht und Rechtſchaffen-<lb/>
heit es heiſchet, als zu den Beſchaͤftigungen des Dich-<lb/>
ters und den Spekulationen des Philoſophen nicht noͤthig<lb/>
iſt. Die gemeine Sentenz: wer ſich ſelbſt bezwingen<lb/>
koͤnne, ſey ſtaͤrker als der, der Voͤlker uͤberwindet und<lb/>
Veſtungen erobert, enthaͤlt eine große pſychologiſche<lb/>
Wahrheit.</p><lb/><p>Die <hirendition="#fr">Kunſt ſich zu verſtellen,</hi> die in der Ge-<lb/>ſchicklichkeit beſtehet, die Ausbruͤche der innern Geſin-<lb/>
nungen und Begierden in Worten, in Mienen, Augen-<lb/>
bewegungen und Geberden zuruͤckzuhalten, erſodert<lb/>
alsdenn, wenn der Affekt in dem Jnnern ſchnell entſteht,<lb/>
ohne Zweifel eine vorzuͤgliche Gegenwart des Geiſtes.<lb/>
Es ſoll ein Strom in ſeinem Lauf gehemmet werden, der<lb/>ſich mit Heftigkeit ergießet. Jn ſo weit iſt die Ver-<lb/>ſtellungskunſt eine große Kunſt. Eine Unwahrheit in<lb/>
Worten zu ſagen iſt leicht; aber die Augen und das<lb/>
Geſicht etwas anders ſagen laſſen, als in der Seele ge-<lb/>
genwaͤrtig iſt, erfodert zugleich eine Gewalt uͤber die<lb/>
Vorſtellungen, deren Gegenwart verhindert werden muß.<lb/>
Aber dennoch haͤngt die ganze innere Groͤße dieſer Kunſt<lb/>
bloß von der Gewalt uͤber ſich ſelbſt ab, welche ſie erfo-<lb/>
dert. So ferne iſt ſie der Tugend aͤhnlich. Aber dieſe<lb/>
Aehnlichkeit liegt auch nur oben auf, und iſt nichts mehr<lb/>
als eine Larvenaͤhnlichkeit. Die Gewalt uͤber die aͤußern<lb/>
Ausbruͤche der Leidenſchaften iſt das Wenigſte von der<lb/>
Gewalt uͤber die Leidenſchaften ſelbſt. Sie hat die Tiefe<lb/>
und Staͤrke der letztern nicht, und iſt ſo ſchwer nicht zu<lb/><fwplace="bottom"type="catch">erler-</fw><lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[655/0685]
und Entwickelung des Menſchen.
ben als die ſelbſtthaͤtige Tugend, ſo iſt es doch außer
Zweifel, daß die letztere im Ganzen einen ſo viel groͤßern
Grad an Selbſtmacht der Seele enthalte, als mehr da-
zu erfodert wird, anſchauliche Jdeenreihen von intereſſi-
renden Objekten zu erwecken und, wie es dienlich iſt, zu
verdunkeln, und dann die aufſteigenden Triebe der thaͤti-
gen Kraft einzuſchraͤnken, zuruͤckzuhalten und zu unter-
druͤcken, nachdem erkannte Pflicht und Rechtſchaffen-
heit es heiſchet, als zu den Beſchaͤftigungen des Dich-
ters und den Spekulationen des Philoſophen nicht noͤthig
iſt. Die gemeine Sentenz: wer ſich ſelbſt bezwingen
koͤnne, ſey ſtaͤrker als der, der Voͤlker uͤberwindet und
Veſtungen erobert, enthaͤlt eine große pſychologiſche
Wahrheit.
Die Kunſt ſich zu verſtellen, die in der Ge-
ſchicklichkeit beſtehet, die Ausbruͤche der innern Geſin-
nungen und Begierden in Worten, in Mienen, Augen-
bewegungen und Geberden zuruͤckzuhalten, erſodert
alsdenn, wenn der Affekt in dem Jnnern ſchnell entſteht,
ohne Zweifel eine vorzuͤgliche Gegenwart des Geiſtes.
Es ſoll ein Strom in ſeinem Lauf gehemmet werden, der
ſich mit Heftigkeit ergießet. Jn ſo weit iſt die Ver-
ſtellungskunſt eine große Kunſt. Eine Unwahrheit in
Worten zu ſagen iſt leicht; aber die Augen und das
Geſicht etwas anders ſagen laſſen, als in der Seele ge-
genwaͤrtig iſt, erfodert zugleich eine Gewalt uͤber die
Vorſtellungen, deren Gegenwart verhindert werden muß.
Aber dennoch haͤngt die ganze innere Groͤße dieſer Kunſt
bloß von der Gewalt uͤber ſich ſelbſt ab, welche ſie erfo-
dert. So ferne iſt ſie der Tugend aͤhnlich. Aber dieſe
Aehnlichkeit liegt auch nur oben auf, und iſt nichts mehr
als eine Larvenaͤhnlichkeit. Die Gewalt uͤber die aͤußern
Ausbruͤche der Leidenſchaften iſt das Wenigſte von der
Gewalt uͤber die Leidenſchaften ſelbſt. Sie hat die Tiefe
und Staͤrke der letztern nicht, und iſt ſo ſchwer nicht zu
erler-
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 655. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/685>, abgerufen am 26.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.