Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität ist, auf das Wohl unserer selbst und anderer, wozu alszu einem Brennpunkt die verschiedenen Selbstbestimmun- gen des Willens in dem Tugendhaften zusammenlaufen. Die letztere bestehet in dem selbstthätigen Vermögen, die Kräfte, Triebe und Bestrebungen mit innerer Freyheit zu diesem Ziel zu lenken und anzuwenden. Wenn der Dichter vielbefassende Vorstellungen bearbeitet, der Be- obachter Gefühle und Empfindungen, und der Denker allgemeine Begriffe: so wirkt in allen diesen Thätigkeiten die innere Selbstmacht der Seele. Aber die Vorstel- lungen bey diesen letzterwähnten Arbeiten, die das Objekt der wirksamen Kraft sind, mögen immer ihre Stärke und Lebhaftigkeit haben und in so weit eine starke Kraft erfodern, die sie stellen und regieren soll: so kommen sie doch in diesem Stück denen nicht gleich, welche bey der Ausübung der Tugend uns vorliegen. Hier sind es mehr interessante Vorstellungen, die sich auf uns selbst beziehen, auf das Gemüth wirken und uns bewegen. Die ideelle Welt des Dichters besteht in Dichtungen, von denen er weiß, daß sie seine Geschöpfe sind; für sich sind es Sachen, die ihn nichts angehen. Desglei- chen sind auch die Gegenstände des Beobachters und des Denkers Dinge, die ihm für sich gleichgültig sind, und deren Verhältnisse und Beziehungen man so nimmt, wie man sie findet, die auch anders seyn möchten, als sie sind, ohne uns unmittelbar zu rühren. So bald sie unsere Eigenliebe erregen, uns afficiren und auf un- sere Triebe wirken, so gehöret die Kraft, die sie mäßi- get und leitet, zu der Selbstthätigkeit, welche Tugend ist. Die Kraft des Dichters regieret große Vorstellun- gen; aber die Selbstmacht des Tugendhaften beherr- schet Empfindungen und dunkele sinnliche Vorstellun- gen, die fast durchaus in Rührungen bestehen, den Wil- len motiviren und zu Affekten hervordrängen. Laß in einzelnen Fällen die Dichtkraft eben so starke Arbeit ha- ben
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt iſt, auf das Wohl unſerer ſelbſt und anderer, wozu alszu einem Brennpunkt die verſchiedenen Selbſtbeſtimmun- gen des Willens in dem Tugendhaften zuſammenlaufen. Die letztere beſtehet in dem ſelbſtthaͤtigen Vermoͤgen, die Kraͤfte, Triebe und Beſtrebungen mit innerer Freyheit zu dieſem Ziel zu lenken und anzuwenden. Wenn der Dichter vielbefaſſende Vorſtellungen bearbeitet, der Be- obachter Gefuͤhle und Empfindungen, und der Denker allgemeine Begriffe: ſo wirkt in allen dieſen Thaͤtigkeiten die innere Selbſtmacht der Seele. Aber die Vorſtel- lungen bey dieſen letzterwaͤhnten Arbeiten, die das Objekt der wirkſamen Kraft ſind, moͤgen immer ihre Staͤrke und Lebhaftigkeit haben und in ſo weit eine ſtarke Kraft erfodern, die ſie ſtellen und regieren ſoll: ſo kommen ſie doch in dieſem Stuͤck denen nicht gleich, welche bey der Ausuͤbung der Tugend uns vorliegen. Hier ſind es mehr intereſſante Vorſtellungen, die ſich auf uns ſelbſt beziehen, auf das Gemuͤth wirken und uns bewegen. Die ideelle Welt des Dichters beſteht in Dichtungen, von denen er weiß, daß ſie ſeine Geſchoͤpfe ſind; fuͤr ſich ſind es Sachen, die ihn nichts angehen. Desglei- chen ſind auch die Gegenſtaͤnde des Beobachters und des Denkers Dinge, die ihm fuͤr ſich gleichguͤltig ſind, und deren Verhaͤltniſſe und Beziehungen man ſo nimmt, wie man ſie findet, die auch anders ſeyn moͤchten, als ſie ſind, ohne uns unmittelbar zu ruͤhren. So bald ſie unſere Eigenliebe erregen, uns afficiren und auf un- ſere Triebe wirken, ſo gehoͤret die Kraft, die ſie maͤßi- get und leitet, zu der Selbſtthaͤtigkeit, welche Tugend iſt. Die Kraft des Dichters regieret große Vorſtellun- gen; aber die Selbſtmacht des Tugendhaften beherr- ſchet Empfindungen und dunkele ſinnliche Vorſtellun- gen, die faſt durchaus in Ruͤhrungen beſtehen, den Wil- len motiviren und zu Affekten hervordraͤngen. Laß in einzelnen Faͤllen die Dichtkraft eben ſo ſtarke Arbeit ha- ben
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
iſt, auf das Wohl unſerer ſelbſt und anderer, wozu als
zu einem Brennpunkt die verſchiedenen Selbſtbeſtimmun-
gen des Willens in dem Tugendhaften zuſammenlaufen.
Die letztere beſtehet in dem ſelbſtthaͤtigen Vermoͤgen, die
Kraͤfte, Triebe und Beſtrebungen mit innerer Freyheit
zu dieſem Ziel zu lenken und anzuwenden. Wenn der
Dichter vielbefaſſende Vorſtellungen bearbeitet, der Be-
obachter Gefuͤhle und Empfindungen, und der Denker
allgemeine Begriffe: ſo wirkt in allen dieſen Thaͤtigkeiten
die innere Selbſtmacht der Seele. Aber die Vorſtel-
lungen bey dieſen letzterwaͤhnten Arbeiten, die das Objekt
der wirkſamen Kraft ſind, moͤgen immer ihre Staͤrke
und Lebhaftigkeit haben und in ſo weit eine ſtarke Kraft
erfodern, die ſie ſtellen und regieren ſoll: ſo kommen ſie
doch in dieſem Stuͤck denen nicht gleich, welche bey der
Ausuͤbung der Tugend uns vorliegen. Hier ſind es
mehr intereſſante Vorſtellungen, die ſich auf uns ſelbſt
beziehen, auf das Gemuͤth wirken und uns bewegen.
Die ideelle Welt des Dichters beſteht in Dichtungen,
von denen er weiß, daß ſie ſeine Geſchoͤpfe ſind; fuͤr
ſich ſind es Sachen, die ihn nichts angehen. Desglei-
chen ſind auch die Gegenſtaͤnde des Beobachters und des
Denkers Dinge, die ihm fuͤr ſich gleichguͤltig ſind, und
deren Verhaͤltniſſe und Beziehungen man ſo nimmt,
wie man ſie findet, die auch anders ſeyn moͤchten, als
ſie ſind, ohne uns unmittelbar zu ruͤhren. So bald
ſie unſere Eigenliebe erregen, uns afficiren und auf un-
ſere Triebe wirken, ſo gehoͤret die Kraft, die ſie maͤßi-
get und leitet, zu der Selbſtthaͤtigkeit, welche Tugend
iſt. Die Kraft des Dichters regieret große Vorſtellun-
gen; aber die Selbſtmacht des Tugendhaften beherr-
ſchet Empfindungen und dunkele ſinnliche Vorſtellun-
gen, die faſt durchaus in Ruͤhrungen beſtehen, den Wil-
len motiviren und zu Affekten hervordraͤngen. Laß in
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