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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
gen des Körpers, ein höherer Grad der Thätigkeit und
der Bewegung, als bey solchen Handlungen, die aus
ruhiger Ueberlegung vollzogen werden. Wenn der
Löwe in Wut ist, und in Wut zerreißet, so wirket
eine größere Kraft, als wenn ein Mensch mit voller Ge-
genwart des Geistes von seinen Armen und Beinen Ge-
brauch machet. Die Größe der Thätigkeit ist für sich
nicht das Maß der Selbstthätigkeit in der Rede.*)
Jn dem Affekt ist die Bewegung in den Vorstellungen
heftig, aber sie kommt mehr aus dem Gehirn als aus
der Selbstbestimmung der Seele, die hier mehr leidet
als thut. Und die Stärke des Körpers ist keine innere
Stärke der Seele. Man könnte auch hier noch einmal,
wie oben, den Menschen von drey verschiedenen Seiten
betrachten, nämlich als Menschengeschöpf, als Thier
und als Mensch. Jn der Größe des Menschengeschöpfs
kömmt auch sein Körper und dessen Vollkommenheit in
Betracht. Als Thier bestehet seine Vollkommenheit in
den Vermögen und Kräften, die aus der Vereinigung
der beiden Bestandtheile entspringen. Allein als Mensch
bestehet seine Größe in dem Grade der Empfindlichkeit
und in dem Grade der Selbstmacht, womit seine Seele
aus ihrem eigenen innern Princip etwas zu wirken ver-
mag. "Je mehr also selbstthätige Wirkungskraft
"in der Seele ist, und je mehr die Einrichtung und
"die Kräfte der Organisation zu diesem Zwecke sich ver-
"einigen, desto größer ist die Menschheit im Men-
"schen."

Dieß ist auch das Maß, dessen sich sowohl der ge-
meine Menschenverstand, der nur dem Gefühl folget,
als die entwickelte Vernunft bedienet, und das für das
richtige erkannt wird, wenn man den Menschen un-
tersucht.

6. Nach
*) Eilfter Versuch III. 3.

und Entwickelung des Menſchen.
gen des Koͤrpers, ein hoͤherer Grad der Thaͤtigkeit und
der Bewegung, als bey ſolchen Handlungen, die aus
ruhiger Ueberlegung vollzogen werden. Wenn der
Loͤwe in Wut iſt, und in Wut zerreißet, ſo wirket
eine groͤßere Kraft, als wenn ein Menſch mit voller Ge-
genwart des Geiſtes von ſeinen Armen und Beinen Ge-
brauch machet. Die Groͤße der Thaͤtigkeit iſt fuͤr ſich
nicht das Maß der Selbſtthaͤtigkeit in der Rede.*)
Jn dem Affekt iſt die Bewegung in den Vorſtellungen
heftig, aber ſie kommt mehr aus dem Gehirn als aus
der Selbſtbeſtimmung der Seele, die hier mehr leidet
als thut. Und die Staͤrke des Koͤrpers iſt keine innere
Staͤrke der Seele. Man koͤnnte auch hier noch einmal,
wie oben, den Menſchen von drey verſchiedenen Seiten
betrachten, naͤmlich als Menſchengeſchoͤpf, als Thier
und als Menſch. Jn der Groͤße des Menſchengeſchoͤpfs
koͤmmt auch ſein Koͤrper und deſſen Vollkommenheit in
Betracht. Als Thier beſtehet ſeine Vollkommenheit in
den Vermoͤgen und Kraͤften, die aus der Vereinigung
der beiden Beſtandtheile entſpringen. Allein als Menſch
beſtehet ſeine Groͤße in dem Grade der Empfindlichkeit
und in dem Grade der Selbſtmacht, womit ſeine Seele
aus ihrem eigenen innern Princip etwas zu wirken ver-
mag. „Je mehr alſo ſelbſtthaͤtige Wirkungskraft
„in der Seele iſt, und je mehr die Einrichtung und
„die Kraͤfte der Organiſation zu dieſem Zwecke ſich ver-
„einigen, deſto groͤßer iſt die Menſchheit im Men-
„ſchen.‟

Dieß iſt auch das Maß, deſſen ſich ſowohl der ge-
meine Menſchenverſtand, der nur dem Gefuͤhl folget,
als die entwickelte Vernunft bedienet, und das fuͤr das
richtige erkannt wird, wenn man den Menſchen un-
terſucht.

6. Nach
*) Eilfter Verſuch III. 3.
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[651/0681] und Entwickelung des Menſchen. gen des Koͤrpers, ein hoͤherer Grad der Thaͤtigkeit und der Bewegung, als bey ſolchen Handlungen, die aus ruhiger Ueberlegung vollzogen werden. Wenn der Loͤwe in Wut iſt, und in Wut zerreißet, ſo wirket eine groͤßere Kraft, als wenn ein Menſch mit voller Ge- genwart des Geiſtes von ſeinen Armen und Beinen Ge- brauch machet. Die Groͤße der Thaͤtigkeit iſt fuͤr ſich nicht das Maß der Selbſtthaͤtigkeit in der Rede. *) Jn dem Affekt iſt die Bewegung in den Vorſtellungen heftig, aber ſie kommt mehr aus dem Gehirn als aus der Selbſtbeſtimmung der Seele, die hier mehr leidet als thut. Und die Staͤrke des Koͤrpers iſt keine innere Staͤrke der Seele. Man koͤnnte auch hier noch einmal, wie oben, den Menſchen von drey verſchiedenen Seiten betrachten, naͤmlich als Menſchengeſchoͤpf, als Thier und als Menſch. Jn der Groͤße des Menſchengeſchoͤpfs koͤmmt auch ſein Koͤrper und deſſen Vollkommenheit in Betracht. Als Thier beſtehet ſeine Vollkommenheit in den Vermoͤgen und Kraͤften, die aus der Vereinigung der beiden Beſtandtheile entſpringen. Allein als Menſch beſtehet ſeine Groͤße in dem Grade der Empfindlichkeit und in dem Grade der Selbſtmacht, womit ſeine Seele aus ihrem eigenen innern Princip etwas zu wirken ver- mag. „Je mehr alſo ſelbſtthaͤtige Wirkungskraft „in der Seele iſt, und je mehr die Einrichtung und „die Kraͤfte der Organiſation zu dieſem Zwecke ſich ver- „einigen, deſto groͤßer iſt die Menſchheit im Men- „ſchen.‟ Dieß iſt auch das Maß, deſſen ſich ſowohl der ge- meine Menſchenverſtand, der nur dem Gefuͤhl folget, als die entwickelte Vernunft bedienet, und das fuͤr das richtige erkannt wird, wenn man den Menſchen un- terſucht. 6. Nach *) Eilfter Verſuch III. 3.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 651. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/681>, abgerufen am 26.11.2024.