entgegengesetzte Vorstellung hervorzuziehen, und uns nach ihr zu bestimmen, vorhanden seyn soll, auch nothwen- dig, daß wir uns in dem Stande der Besinnung alsdenn befinden. Denn so oft es hieran fehlet, so oft fehlet auch das Vermögen, selbstthätig aus sich die ru- henden Vorstellungen und Kräfte zu erwecken und thä- tig zu machen. Die Maximen der Weisheit im Ge- dächtniß helfen nichts, wenn der Mensch nicht die Kraft hat, sich ihrer zur rechten Zeit zu erinnern, und sie zur lebhaften Gegenwart zu bringen, dann, wann die Sinnlichkeit ihn angreift. Jhr Vorrath im Kopfe macht keinen Weisen, ob sie gleich die Waffen der Weis- heit sind. Die Seele muß die Kräfte besitzen, sie zu führen, worauf alles ankommt; das ist, die selbstthäti- ge Kraft, die guten Gedanken zu gebrauchen, muß durch den Anfall der bewegenden Vorstellung nicht ent- zogen, noch geschwächt noch gebunden werden. Und dazu ist es nothwendig, daß die Besinnung oder der Stand der wirksamen Vernunft und Ueberlegungskraft erhalten werde.
Hieraus offenbaret sich die Beziehung der Freyheit auf die Vernunft, und der Grund ihrer Verbindung miteinander sehr deutlich, obgleich jene nicht einerley mit dieser, noch in ihrem ganzen Umfange genommen, eine nothwendige Folge von ihr ist.
Die Vernunft ist ein selbstthätiges Vermögen der Seele, das Vorstellungen zu seinen Gegenständen hat, und die Freyheit ist eine erhöhete Selbstthätig- keit in allen Kraftäußerungen der Seele überhaupt. Beide haben eine gemeinschaftliche Quelle. Daher ist es also nicht zu verwundern, daß, wo der eine von den Ausflüssen, zumal derjenige, der meistentheils der schwä- chere ist, nämlich die Vernunft, nicht thätig seyn kann, auch von dem stärkern keine Wirkungen zu erwarten sind. Jst Unbesinnlichkeit in der Seele, so ist keine Selbst-
thätig-
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
entgegengeſetzte Vorſtellung hervorzuziehen, und uns nach ihr zu beſtimmen, vorhanden ſeyn ſoll, auch nothwen- dig, daß wir uns in dem Stande der Beſinnung alsdenn befinden. Denn ſo oft es hieran fehlet, ſo oft fehlet auch das Vermoͤgen, ſelbſtthaͤtig aus ſich die ru- henden Vorſtellungen und Kraͤfte zu erwecken und thaͤ- tig zu machen. Die Maximen der Weisheit im Ge- daͤchtniß helfen nichts, wenn der Menſch nicht die Kraft hat, ſich ihrer zur rechten Zeit zu erinnern, und ſie zur lebhaften Gegenwart zu bringen, dann, wann die Sinnlichkeit ihn angreift. Jhr Vorrath im Kopfe macht keinen Weiſen, ob ſie gleich die Waffen der Weis- heit ſind. Die Seele muß die Kraͤfte beſitzen, ſie zu fuͤhren, worauf alles ankommt; das iſt, die ſelbſtthaͤti- ge Kraft, die guten Gedanken zu gebrauchen, muß durch den Anfall der bewegenden Vorſtellung nicht ent- zogen, noch geſchwaͤcht noch gebunden werden. Und dazu iſt es nothwendig, daß die Beſinnung oder der Stand der wirkſamen Vernunft und Ueberlegungskraft erhalten werde.
Hieraus offenbaret ſich die Beziehung der Freyheit auf die Vernunft, und der Grund ihrer Verbindung miteinander ſehr deutlich, obgleich jene nicht einerley mit dieſer, noch in ihrem ganzen Umfange genommen, eine nothwendige Folge von ihr iſt.
Die Vernunft iſt ein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen der Seele, das Vorſtellungen zu ſeinen Gegenſtaͤnden hat, und die Freyheit iſt eine erhoͤhete Selbſtthaͤtig- keit in allen Kraftaͤußerungen der Seele uͤberhaupt. Beide haben eine gemeinſchaftliche Quelle. Daher iſt es alſo nicht zu verwundern, daß, wo der eine von den Ausfluͤſſen, zumal derjenige, der meiſtentheils der ſchwaͤ- chere iſt, naͤmlich die Vernunft, nicht thaͤtig ſeyn kann, auch von dem ſtaͤrkern keine Wirkungen zu erwarten ſind. Jſt Unbeſinnlichkeit in der Seele, ſo iſt keine Selbſt-
thaͤtig-
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
entgegengeſetzte Vorſtellung hervorzuziehen, und uns nach
ihr zu beſtimmen, vorhanden ſeyn ſoll, auch nothwen-
dig, daß wir uns in dem Stande der Beſinnung
alsdenn befinden. Denn ſo oft es hieran fehlet, ſo oft
fehlet auch das Vermoͤgen, ſelbſtthaͤtig aus ſich die ru-
henden Vorſtellungen und Kraͤfte zu erwecken und thaͤ-
tig zu machen. Die Maximen der Weisheit im Ge-
daͤchtniß helfen nichts, wenn der Menſch nicht die Kraft
hat, ſich ihrer zur rechten Zeit zu erinnern, und ſie zur
lebhaften Gegenwart zu bringen, dann, wann die
Sinnlichkeit ihn angreift. Jhr Vorrath im Kopfe
macht keinen Weiſen, ob ſie gleich die Waffen der Weis-
heit ſind. Die Seele muß die Kraͤfte beſitzen, ſie zu
fuͤhren, worauf alles ankommt; das iſt, die ſelbſtthaͤti-
ge Kraft, die guten Gedanken zu gebrauchen, muß
durch den Anfall der bewegenden Vorſtellung nicht ent-
zogen, noch geſchwaͤcht noch gebunden werden. Und
dazu iſt es nothwendig, daß die Beſinnung oder der
Stand der wirkſamen Vernunft und Ueberlegungskraft
erhalten werde.
Hieraus offenbaret ſich die Beziehung der Freyheit
auf die Vernunft, und der Grund ihrer Verbindung
miteinander ſehr deutlich, obgleich jene nicht einerley
mit dieſer, noch in ihrem ganzen Umfange genommen,
eine nothwendige Folge von ihr iſt.
Die Vernunft iſt ein ſelbſtthaͤtiges Vermoͤgen
der Seele, das Vorſtellungen zu ſeinen Gegenſtaͤnden
hat, und die Freyheit iſt eine erhoͤhete Selbſtthaͤtig-
keit in allen Kraftaͤußerungen der Seele uͤberhaupt.
Beide haben eine gemeinſchaftliche Quelle. Daher iſt
es alſo nicht zu verwundern, daß, wo der eine von den
Ausfluͤſſen, zumal derjenige, der meiſtentheils der ſchwaͤ-
chere iſt, naͤmlich die Vernunft, nicht thaͤtig ſeyn kann,
auch von dem ſtaͤrkern keine Wirkungen zu erwarten ſind.
Jſt Unbeſinnlichkeit in der Seele, ſo iſt keine Selbſt-
thaͤtig-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 38. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/68>, abgerufen am 22.11.2024.
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