Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.und Entwickelung des Menschen. Der große Schwimmer auf Otaheite, den die Englän-der bewunderten, hätte wohl so etwas ähnliches von sich denken können. Gleichwohl ist doch auch eine außeror- dentliche Schätzung außerordentlicher Geschicklichkeiten nicht unbestimmt zu tadeln, wenn es gleich nur körper- liche Geschicklichkeiten find, und zunächst und fast allein nur zum Vergnügen dienen. Unter besondern Umstän- den mag es richtige Empfindung seyn, wenn man die Summen bedauert, die Sängern und Tänzern gegeben werden. Aber ist es deßwegen so unangemessen, wenn ein Regent oder die Nation die Geschicklichkeiten seiner Vestris, seiner Gabrielis, wie seiner Garriks, hoch schä- tzet, und hoch bezahlet? Und ist es wohl allein die Seltenheit solcher Künste, die den innern Werth davon, wenn gleich den Preis, machet? Es verhalte sich in Hin- sicht des letztern, wie es wolle, so muß man immer ge- stehen, auch in den körperlichen Fertigkeiten, liege ein innerer Vorzug an geistiger Vollkommenheit, die einen innern vorzüglichen Werth hat. Dieser schätzet das na- türliche Gefühl. Die Fertigkeiten durch den Körper zu wirken sind zum Theil Fertigkeiten in der Seele, im Gefühl, in der Einbildungskraft, auch in dem Verstan- de, insoferne große Gegenwart des Geistes dazu erfo- dert wird. Dieß ist so gar von denen wahr, die man sonsten zu den schönen Künsten nicht rechnet, weil man sie mehr für körperlich hält. Es ist eine Regel ohne Ausnahme: "daß ohne Genie niemand ein Virtuose "wird," es sey worinn es wolle. Das Mittelmäßige erfodert im Spielen, Tanzen, Fechten, Schwimmen, Springen, Malen u. s. w. eben keinen großen Kopf; aber hervorragende Fertigkeit ist nicht möglich, wo es am lebhaften Gefühl und an feuriger Jmagination feh- let. Es sollen lange Reihen von Jdeen schnell überse- hen, lange Reihen kleiner, aber unzählig mannichfalti- ger, organischer Bewegungen in angemessener Stärke und S s 4
und Entwickelung des Menſchen. Der große Schwimmer auf Otaheite, den die Englaͤn-der bewunderten, haͤtte wohl ſo etwas aͤhnliches von ſich denken koͤnnen. Gleichwohl iſt doch auch eine außeror- dentliche Schaͤtzung außerordentlicher Geſchicklichkeiten nicht unbeſtimmt zu tadeln, wenn es gleich nur koͤrper- liche Geſchicklichkeiten find, und zunaͤchſt und faſt allein nur zum Vergnuͤgen dienen. Unter beſondern Umſtaͤn- den mag es richtige Empfindung ſeyn, wenn man die Summen bedauert, die Saͤngern und Taͤnzern gegeben werden. Aber iſt es deßwegen ſo unangemeſſen, wenn ein Regent oder die Nation die Geſchicklichkeiten ſeiner Veſtris, ſeiner Gabrielis, wie ſeiner Garriks, hoch ſchaͤ- tzet, und hoch bezahlet? Und iſt es wohl allein die Seltenheit ſolcher Kuͤnſte, die den innern Werth davon, wenn gleich den Preis, machet? Es verhalte ſich in Hin- ſicht des letztern, wie es wolle, ſo muß man immer ge- ſtehen, auch in den koͤrperlichen Fertigkeiten, liege ein innerer Vorzug an geiſtiger Vollkommenheit, die einen innern vorzuͤglichen Werth hat. Dieſer ſchaͤtzet das na- tuͤrliche Gefuͤhl. Die Fertigkeiten durch den Koͤrper zu wirken ſind zum Theil Fertigkeiten in der Seele, im Gefuͤhl, in der Einbildungskraft, auch in dem Verſtan- de, inſoferne große Gegenwart des Geiſtes dazu erfo- dert wird. Dieß iſt ſo gar von denen wahr, die man ſonſten zu den ſchoͤnen Kuͤnſten nicht rechnet, weil man ſie mehr fuͤr koͤrperlich haͤlt. Es iſt eine Regel ohne Ausnahme: „daß ohne Genie niemand ein Virtuoſe „wird,‟ es ſey worinn es wolle. Das Mittelmaͤßige erfodert im Spielen, Tanzen, Fechten, Schwimmen, Springen, Malen u. ſ. w. eben keinen großen Kopf; aber hervorragende Fertigkeit iſt nicht moͤglich, wo es am lebhaften Gefuͤhl und an feuriger Jmagination feh- let. Es ſollen lange Reihen von Jdeen ſchnell uͤberſe- hen, lange Reihen kleiner, aber unzaͤhlig mannichfalti- ger, organiſcher Bewegungen in angemeſſener Staͤrke und S s 4
<TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p><pb facs="#f0677" n="647"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Menſchen.</hi></fw><lb/> Der große Schwimmer auf Otaheite, den die Englaͤn-<lb/> der bewunderten, haͤtte wohl ſo etwas aͤhnliches von ſich<lb/> denken koͤnnen. Gleichwohl iſt doch auch eine außeror-<lb/> dentliche Schaͤtzung außerordentlicher Geſchicklichkeiten<lb/> nicht unbeſtimmt zu tadeln, wenn es gleich nur koͤrper-<lb/> liche Geſchicklichkeiten find, und zunaͤchſt und faſt allein<lb/> nur zum Vergnuͤgen dienen. Unter beſondern Umſtaͤn-<lb/> den mag es richtige Empfindung ſeyn, wenn man die<lb/> Summen bedauert, die Saͤngern und Taͤnzern gegeben<lb/> werden. Aber iſt es deßwegen ſo unangemeſſen, wenn<lb/> ein Regent oder die Nation die Geſchicklichkeiten ſeiner<lb/> Veſtris, ſeiner Gabrielis, wie ſeiner Garriks, hoch ſchaͤ-<lb/> tzet, und hoch bezahlet? Und iſt es wohl allein die<lb/> Seltenheit ſolcher Kuͤnſte, die den innern Werth davon,<lb/> wenn gleich den Preis, machet? Es verhalte ſich in Hin-<lb/> ſicht des letztern, wie es wolle, ſo muß man immer ge-<lb/> ſtehen, auch in den koͤrperlichen Fertigkeiten, liege ein<lb/> innerer Vorzug an geiſtiger Vollkommenheit, die einen<lb/> innern vorzuͤglichen Werth hat. Dieſer ſchaͤtzet das na-<lb/> tuͤrliche Gefuͤhl. Die Fertigkeiten durch den Koͤrper zu<lb/> wirken ſind zum Theil Fertigkeiten in der Seele, im<lb/> Gefuͤhl, in der Einbildungskraft, auch in dem Verſtan-<lb/> de, inſoferne große Gegenwart des Geiſtes dazu erfo-<lb/> dert wird. Dieß iſt ſo gar von denen wahr, die man<lb/> ſonſten zu den ſchoͤnen Kuͤnſten nicht rechnet, weil man<lb/> ſie mehr fuͤr koͤrperlich haͤlt. Es iſt eine Regel ohne<lb/> Ausnahme: „daß ohne Genie niemand ein Virtuoſe<lb/> „wird,‟ es ſey worinn es wolle. Das Mittelmaͤßige<lb/> erfodert im Spielen, Tanzen, Fechten, Schwimmen,<lb/> Springen, Malen u. ſ. w. eben keinen großen Kopf;<lb/> aber hervorragende Fertigkeit iſt nicht moͤglich, wo es<lb/> am lebhaften Gefuͤhl und an feuriger Jmagination feh-<lb/> let. Es ſollen lange Reihen von Jdeen ſchnell uͤberſe-<lb/> hen, lange Reihen kleiner, aber unzaͤhlig mannichfalti-<lb/> ger, organiſcher Bewegungen in angemeſſener Staͤrke<lb/> <fw place="bottom" type="sig">S s 4</fw><fw place="bottom" type="catch">und</fw><lb/></p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [647/0677]
und Entwickelung des Menſchen.
Der große Schwimmer auf Otaheite, den die Englaͤn-
der bewunderten, haͤtte wohl ſo etwas aͤhnliches von ſich
denken koͤnnen. Gleichwohl iſt doch auch eine außeror-
dentliche Schaͤtzung außerordentlicher Geſchicklichkeiten
nicht unbeſtimmt zu tadeln, wenn es gleich nur koͤrper-
liche Geſchicklichkeiten find, und zunaͤchſt und faſt allein
nur zum Vergnuͤgen dienen. Unter beſondern Umſtaͤn-
den mag es richtige Empfindung ſeyn, wenn man die
Summen bedauert, die Saͤngern und Taͤnzern gegeben
werden. Aber iſt es deßwegen ſo unangemeſſen, wenn
ein Regent oder die Nation die Geſchicklichkeiten ſeiner
Veſtris, ſeiner Gabrielis, wie ſeiner Garriks, hoch ſchaͤ-
tzet, und hoch bezahlet? Und iſt es wohl allein die
Seltenheit ſolcher Kuͤnſte, die den innern Werth davon,
wenn gleich den Preis, machet? Es verhalte ſich in Hin-
ſicht des letztern, wie es wolle, ſo muß man immer ge-
ſtehen, auch in den koͤrperlichen Fertigkeiten, liege ein
innerer Vorzug an geiſtiger Vollkommenheit, die einen
innern vorzuͤglichen Werth hat. Dieſer ſchaͤtzet das na-
tuͤrliche Gefuͤhl. Die Fertigkeiten durch den Koͤrper zu
wirken ſind zum Theil Fertigkeiten in der Seele, im
Gefuͤhl, in der Einbildungskraft, auch in dem Verſtan-
de, inſoferne große Gegenwart des Geiſtes dazu erfo-
dert wird. Dieß iſt ſo gar von denen wahr, die man
ſonſten zu den ſchoͤnen Kuͤnſten nicht rechnet, weil man
ſie mehr fuͤr koͤrperlich haͤlt. Es iſt eine Regel ohne
Ausnahme: „daß ohne Genie niemand ein Virtuoſe
„wird,‟ es ſey worinn es wolle. Das Mittelmaͤßige
erfodert im Spielen, Tanzen, Fechten, Schwimmen,
Springen, Malen u. ſ. w. eben keinen großen Kopf;
aber hervorragende Fertigkeit iſt nicht moͤglich, wo es
am lebhaften Gefuͤhl und an feuriger Jmagination feh-
let. Es ſollen lange Reihen von Jdeen ſchnell uͤberſe-
hen, lange Reihen kleiner, aber unzaͤhlig mannichfalti-
ger, organiſcher Bewegungen in angemeſſener Staͤrke
und
S s 4
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |