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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
als andere. Dieß ist vielmehr oft dem Ganzen nützlich.
Eben so kann auch die vorzügliche Kultur einzelner See-
lenvermögen der ganzen Natur zum Vortheil gereichen.
Oder doch wenigstens vermindert dieß nicht nothwendig,
noch allemal, die Größe der Vollkommenheit im Ganzen.
Das Geblüt dringet bey der Anstrengung des Kopfs
stärker zum Gehirn. Dieß ist für sich noch keine Krank-
heit, wenn es nicht in dem Uebermaße geschieht, daß
andern Theilen die nothdürftige Nahrung entzogen und
das, zum Leben und zur Gesundheit erfoderliche, Ebenmaß
der Bewegungen in der Maschine gestöret wird. Aber
über diese Grenze hinaus wird es schädlich und tödtend.
Dasselbige gilt bey der Seele. Die vorzüglichsten Na-
turanlagen mögen am meisten kultiviret werden, wenn
nur die übrigen auch so viel Uebung haben, als ihrem
Verhältnisse gemäß ist.

Man hat über die Politesse die Anmerkung gemacht,
daß sie nur bis auf eine gewisse Grenze eine wahre
Vollkommenheit sey. Dieß ist eine allgemeine Ei-
genschaft aller besondern menschlichen Geschicklichkeiten,
Fertigkeiten und Tugenden. Es giebt keine einzige
Naturanlage in dem Menschen, auch nicht in der See-
le, keine Fähigkeit der Einbildungskraft und des Ver-
standes, keine Art des Gefühls und der Empfindsam-
keit, keine Wirkungsart des thätigen Willens, in de-
ren Perficirung es nicht ein gewisses Maß gebe, das
ohne Schaden des Ganzen, und ohne sich selbst wieder-
um zu schwächen, nicht überschritten werden darf. Auch
die Weisheit hat ihr Maß; und Horazens Ausspruch:
Insani sapiens nomen ferat, aequus iniqui,
Vltra, quam satis est, virtutem si petat ipsam.

enthält einen psychologischen Lehrsatz. Wird z. E. die
Denkkraft überspannet, so entstehet in der Empfindsam-
keit und in der thätigen Kraft des Willens eine Schwä-

che
II. Theil. R r

und Entwickelung des Menſchen.
als andere. Dieß iſt vielmehr oft dem Ganzen nuͤtzlich.
Eben ſo kann auch die vorzuͤgliche Kultur einzelner See-
lenvermoͤgen der ganzen Natur zum Vortheil gereichen.
Oder doch wenigſtens vermindert dieß nicht nothwendig,
noch allemal, die Groͤße der Vollkommenheit im Ganzen.
Das Gebluͤt dringet bey der Anſtrengung des Kopfs
ſtaͤrker zum Gehirn. Dieß iſt fuͤr ſich noch keine Krank-
heit, wenn es nicht in dem Uebermaße geſchieht, daß
andern Theilen die nothduͤrftige Nahrung entzogen und
das, zum Leben und zur Geſundheit erfoderliche, Ebenmaß
der Bewegungen in der Maſchine geſtoͤret wird. Aber
uͤber dieſe Grenze hinaus wird es ſchaͤdlich und toͤdtend.
Daſſelbige gilt bey der Seele. Die vorzuͤglichſten Na-
turanlagen moͤgen am meiſten kultiviret werden, wenn
nur die uͤbrigen auch ſo viel Uebung haben, als ihrem
Verhaͤltniſſe gemaͤß iſt.

Man hat uͤber die Politeſſe die Anmerkung gemacht,
daß ſie nur bis auf eine gewiſſe Grenze eine wahre
Vollkommenheit ſey. Dieß iſt eine allgemeine Ei-
genſchaft aller beſondern menſchlichen Geſchicklichkeiten,
Fertigkeiten und Tugenden. Es giebt keine einzige
Naturanlage in dem Menſchen, auch nicht in der See-
le, keine Faͤhigkeit der Einbildungskraft und des Ver-
ſtandes, keine Art des Gefuͤhls und der Empfindſam-
keit, keine Wirkungsart des thaͤtigen Willens, in de-
ren Perficirung es nicht ein gewiſſes Maß gebe, das
ohne Schaden des Ganzen, und ohne ſich ſelbſt wieder-
um zu ſchwaͤchen, nicht uͤberſchritten werden darf. Auch
die Weisheit hat ihr Maß; und Horazens Ausſpruch:
Inſani ſapiens nomen ferat, æquus iniqui,
Vltra, quam ſatis eſt, virtutem ſi petat ipſam.

enthaͤlt einen pſychologiſchen Lehrſatz. Wird z. E. die
Denkkraft uͤberſpannet, ſo entſtehet in der Empfindſam-
keit und in der thaͤtigen Kraft des Willens eine Schwaͤ-

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II. Theil. R r
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[625/0655] und Entwickelung des Menſchen. als andere. Dieß iſt vielmehr oft dem Ganzen nuͤtzlich. Eben ſo kann auch die vorzuͤgliche Kultur einzelner See- lenvermoͤgen der ganzen Natur zum Vortheil gereichen. Oder doch wenigſtens vermindert dieß nicht nothwendig, noch allemal, die Groͤße der Vollkommenheit im Ganzen. Das Gebluͤt dringet bey der Anſtrengung des Kopfs ſtaͤrker zum Gehirn. Dieß iſt fuͤr ſich noch keine Krank- heit, wenn es nicht in dem Uebermaße geſchieht, daß andern Theilen die nothduͤrftige Nahrung entzogen und das, zum Leben und zur Geſundheit erfoderliche, Ebenmaß der Bewegungen in der Maſchine geſtoͤret wird. Aber uͤber dieſe Grenze hinaus wird es ſchaͤdlich und toͤdtend. Daſſelbige gilt bey der Seele. Die vorzuͤglichſten Na- turanlagen moͤgen am meiſten kultiviret werden, wenn nur die uͤbrigen auch ſo viel Uebung haben, als ihrem Verhaͤltniſſe gemaͤß iſt. Man hat uͤber die Politeſſe die Anmerkung gemacht, daß ſie nur bis auf eine gewiſſe Grenze eine wahre Vollkommenheit ſey. Dieß iſt eine allgemeine Ei- genſchaft aller beſondern menſchlichen Geſchicklichkeiten, Fertigkeiten und Tugenden. Es giebt keine einzige Naturanlage in dem Menſchen, auch nicht in der See- le, keine Faͤhigkeit der Einbildungskraft und des Ver- ſtandes, keine Art des Gefuͤhls und der Empfindſam- keit, keine Wirkungsart des thaͤtigen Willens, in de- ren Perficirung es nicht ein gewiſſes Maß gebe, das ohne Schaden des Ganzen, und ohne ſich ſelbſt wieder- um zu ſchwaͤchen, nicht uͤberſchritten werden darf. Auch die Weisheit hat ihr Maß; und Horazens Ausſpruch: Inſani ſapiens nomen ferat, æquus iniqui, Vltra, quam ſatis eſt, virtutem ſi petat ipſam. enthaͤlt einen pſychologiſchen Lehrſatz. Wird z. E. die Denkkraft uͤberſpannet, ſo entſtehet in der Empfindſam- keit und in der thaͤtigen Kraft des Willens eine Schwaͤ- che II. Theil. R r

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 625. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/655>, abgerufen am 23.11.2024.