ner Mensch ein Barbar, als er es ist wie Bürger seines Staats. Dieß hat freylich viele Ausnahmen. Es giebt unter den Wilden einzelne Personen, deren Verstand und Geisteserhabenheit den kultivirten Europäer be- schämet, und die, zum Theil auch in Sitten, viel Fein- heit und Anständigkeit beweisen; und unter den Bar- baren hat man die sanftesten und zärtlichsten Gefühle angetroffen. Dennoch aber hat der größte Haufe das Gepräge der Nation.
Jndessen möchte es hiemit seyn, wie ihm wolle, so kann doch die Wildheit, die Barbarey und die Verfei- nerung des Charakters bey den Jndividuen auf diesel- bige Weise unterschieden werden, wie bey den ganzen Gesellschaften. Und in dieser Hinsicht kommen sie hier am meisten in Betracht.
Jn dem Stande der Wildheit sind es die äußern Sinne und die körperlichen Kräfte, die am meisten gestärkt und entwickelt werden. Die höhern Kräfte der Seele bleiben verhältnißmäßig dagegen zurück. Man findet fast bey allen Wilden eine Geschicklichkeit im Lau- fen, Schwimmen, im Lastentragen und dergleichen. Oder man bewundert ihr scharfes Gesicht, ihr weit reichendes Gehör, oder ihren spürenden Geruch. Viele besitzen mehr körperliche Stärke als die Europäer, die gegen jene verlieren würden, wenn sie, ohne ihre bessern Waffen, Mann für Mann mit ihnen kämpfen sollten. Aber am Verstande sind die Wilden Kinder, unter de- nen ein kultivirter Europäer das ist, was ein kluger Mann unter einem Haufen unerfahrner Jünglinge. Die Wildheit hat indessen ihre Stufen, in denen das Haupt- merkmal derselben, nämlich, Kindheit in der Seele bey der stärksten Mannheit am Körper, auf un- zählich mannichfaltige Art modificirt ist.
Von dem ganz ungesellschaftlichen Stande der Menschen und der Form, die seine Natur in diesem an-
nimmt,
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und Entwickelung des Menſchen.
ner Menſch ein Barbar, als er es iſt wie Buͤrger ſeines Staats. Dieß hat freylich viele Ausnahmen. Es giebt unter den Wilden einzelne Perſonen, deren Verſtand und Geiſteserhabenheit den kultivirten Europaͤer be- ſchaͤmet, und die, zum Theil auch in Sitten, viel Fein- heit und Anſtaͤndigkeit beweiſen; und unter den Bar- baren hat man die ſanfteſten und zaͤrtlichſten Gefuͤhle angetroffen. Dennoch aber hat der groͤßte Haufe das Gepraͤge der Nation.
Jndeſſen moͤchte es hiemit ſeyn, wie ihm wolle, ſo kann doch die Wildheit, die Barbarey und die Verfei- nerung des Charakters bey den Jndividuen auf dieſel- bige Weiſe unterſchieden werden, wie bey den ganzen Geſellſchaften. Und in dieſer Hinſicht kommen ſie hier am meiſten in Betracht.
Jn dem Stande der Wildheit ſind es die aͤußern Sinne und die koͤrperlichen Kraͤfte, die am meiſten geſtaͤrkt und entwickelt werden. Die hoͤhern Kraͤfte der Seele bleiben verhaͤltnißmaͤßig dagegen zuruͤck. Man findet faſt bey allen Wilden eine Geſchicklichkeit im Lau- fen, Schwimmen, im Laſtentragen und dergleichen. Oder man bewundert ihr ſcharfes Geſicht, ihr weit reichendes Gehoͤr, oder ihren ſpuͤrenden Geruch. Viele beſitzen mehr koͤrperliche Staͤrke als die Europaͤer, die gegen jene verlieren wuͤrden, wenn ſie, ohne ihre beſſern Waffen, Mann fuͤr Mann mit ihnen kaͤmpfen ſollten. Aber am Verſtande ſind die Wilden Kinder, unter de- nen ein kultivirter Europaͤer das iſt, was ein kluger Mann unter einem Haufen unerfahrner Juͤnglinge. Die Wildheit hat indeſſen ihre Stufen, in denen das Haupt- merkmal derſelben, naͤmlich, Kindheit in der Seele bey der ſtaͤrkſten Mannheit am Koͤrper, auf un- zaͤhlich mannichfaltige Art modificirt iſt.
Von dem ganz ungeſellſchaftlichen Stande der Menſchen und der Form, die ſeine Natur in dieſem an-
nimmt,
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und Entwickelung des Menſchen.
ner Menſch ein Barbar, als er es iſt wie Buͤrger ſeines
Staats. Dieß hat freylich viele Ausnahmen. Es giebt
unter den Wilden einzelne Perſonen, deren Verſtand
und Geiſteserhabenheit den kultivirten Europaͤer be-
ſchaͤmet, und die, zum Theil auch in Sitten, viel Fein-
heit und Anſtaͤndigkeit beweiſen; und unter den Bar-
baren hat man die ſanfteſten und zaͤrtlichſten Gefuͤhle
angetroffen. Dennoch aber hat der groͤßte Haufe das
Gepraͤge der Nation.
Jndeſſen moͤchte es hiemit ſeyn, wie ihm wolle, ſo
kann doch die Wildheit, die Barbarey und die Verfei-
nerung des Charakters bey den Jndividuen auf dieſel-
bige Weiſe unterſchieden werden, wie bey den ganzen
Geſellſchaften. Und in dieſer Hinſicht kommen ſie hier
am meiſten in Betracht.
Jn dem Stande der Wildheit ſind es die aͤußern
Sinne und die koͤrperlichen Kraͤfte, die am meiſten
geſtaͤrkt und entwickelt werden. Die hoͤhern Kraͤfte
der Seele bleiben verhaͤltnißmaͤßig dagegen zuruͤck. Man
findet faſt bey allen Wilden eine Geſchicklichkeit im Lau-
fen, Schwimmen, im Laſtentragen und dergleichen.
Oder man bewundert ihr ſcharfes Geſicht, ihr weit
reichendes Gehoͤr, oder ihren ſpuͤrenden Geruch. Viele
beſitzen mehr koͤrperliche Staͤrke als die Europaͤer, die
gegen jene verlieren wuͤrden, wenn ſie, ohne ihre beſſern
Waffen, Mann fuͤr Mann mit ihnen kaͤmpfen ſollten.
Aber am Verſtande ſind die Wilden Kinder, unter de-
nen ein kultivirter Europaͤer das iſt, was ein kluger
Mann unter einem Haufen unerfahrner Juͤnglinge. Die
Wildheit hat indeſſen ihre Stufen, in denen das Haupt-
merkmal derſelben, naͤmlich, Kindheit in der Seele
bey der ſtaͤrkſten Mannheit am Koͤrper, auf un-
zaͤhlich mannichfaltige Art modificirt iſt.
Von dem ganz ungeſellſchaftlichen Stande der
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 611. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/641>, abgerufen am 22.11.2024.
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