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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
Beschaffenheit, deren Beytritt oder Widerstrebung sie
bey ihren Arbeiten an den Kindern mehr als zu viel em-
pfinden. Man mag immerhin sagen, jedes Jndivi-
duum habe dieselbigen Fähigkeiten des Gefühls, des Ver-
standes und Herzens; es könne also an eben der Seite
ausgebildet werden, wie ein anderes. Das wohl: aber
besitzet es diese Anlagen in gleichem Grade der Lebhaftig-
keit und Stärke? Man wird leicht bemerken, wenn
man die Werke der Genies vergleichet, daß die Fein-
heit des Geschmacks an Werken des Witzes und der
Kunst, die zärtliche Neigung zu dem, was wahr, was
gerecht und anständig ist und dergleichen, etwas mehr in
der Seele zum Grunde habe als ein gemeines Gefühl
für solche Verhältnisse, das allen Menschen zukommt,
oder durch Erziehung in alle gebracht werden kann.
Nicht jeder, der aufgelegt ist Verse zu machen, hat
die Anlage zum epischen Dichter; nicht jeder, der so viel
Ueberlegungskraft besitzet als zu dem gemeinen Men-
schenverstand erfodert wird, ist aufgelegt ein Vaucan-
son, ein Newton oder ein Leibnitz zu werden. Wer
kann sich hier den großen Beytrag der angebornen
Stärke der innern Natur wegraisonniren lassen? Ein
anders aber ist es, der Natur alles zuschreiben.

Jn Hinsicht der Nationalcharaktere mag es viel
schwerer seyn, solche Erfahrungen beyzubringen, aus
welchen die angeborne Verschiedenheit so offenbar erhelle.
Wie würden sich z. E. die Kinder der Paraguayer ver-
halten, wenn sie, von ihrer ersten Geburt an, in Eu-
ropa erzogen und europäisch unterrichtet würden? Soll-
ten nicht die kleinern Eigenheiten, die ihrem Naturell
ankleben, unkenntlich werden müssen? Es ist zu glau-
ben, daß sie es würden; aber wenn man dabey acht hät-
te, auf die Schwierigkeiten, die ein Erzieher bey diesen
mehr als bey europäischen Kindern antrift, um sie wie
diese zu bilden: so müßte sich die Wirkung ihres Na-

turells

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
Beſchaffenheit, deren Beytritt oder Widerſtrebung ſie
bey ihren Arbeiten an den Kindern mehr als zu viel em-
pfinden. Man mag immerhin ſagen, jedes Jndivi-
duum habe dieſelbigen Faͤhigkeiten des Gefuͤhls, des Ver-
ſtandes und Herzens; es koͤnne alſo an eben der Seite
ausgebildet werden, wie ein anderes. Das wohl: aber
beſitzet es dieſe Anlagen in gleichem Grade der Lebhaftig-
keit und Staͤrke? Man wird leicht bemerken, wenn
man die Werke der Genies vergleichet, daß die Fein-
heit des Geſchmacks an Werken des Witzes und der
Kunſt, die zaͤrtliche Neigung zu dem, was wahr, was
gerecht und anſtaͤndig iſt und dergleichen, etwas mehr in
der Seele zum Grunde habe als ein gemeines Gefuͤhl
fuͤr ſolche Verhaͤltniſſe, das allen Menſchen zukommt,
oder durch Erziehung in alle gebracht werden kann.
Nicht jeder, der aufgelegt iſt Verſe zu machen, hat
die Anlage zum epiſchen Dichter; nicht jeder, der ſo viel
Ueberlegungskraft beſitzet als zu dem gemeinen Men-
ſchenverſtand erfodert wird, iſt aufgelegt ein Vaucan-
ſon, ein Newton oder ein Leibnitz zu werden. Wer
kann ſich hier den großen Beytrag der angebornen
Staͤrke der innern Natur wegraiſonniren laſſen? Ein
anders aber iſt es, der Natur alles zuſchreiben.

Jn Hinſicht der Nationalcharaktere mag es viel
ſchwerer ſeyn, ſolche Erfahrungen beyzubringen, aus
welchen die angeborne Verſchiedenheit ſo offenbar erhelle.
Wie wuͤrden ſich z. E. die Kinder der Paraguayer ver-
halten, wenn ſie, von ihrer erſten Geburt an, in Eu-
ropa erzogen und europaͤiſch unterrichtet wuͤrden? Soll-
ten nicht die kleinern Eigenheiten, die ihrem Naturell
ankleben, unkenntlich werden muͤſſen? Es iſt zu glau-
ben, daß ſie es wuͤrden; aber wenn man dabey acht haͤt-
te, auf die Schwierigkeiten, die ein Erzieher bey dieſen
mehr als bey europaͤiſchen Kindern antrift, um ſie wie
dieſe zu bilden: ſo muͤßte ſich die Wirkung ihres Na-

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[560/0590] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt Beſchaffenheit, deren Beytritt oder Widerſtrebung ſie bey ihren Arbeiten an den Kindern mehr als zu viel em- pfinden. Man mag immerhin ſagen, jedes Jndivi- duum habe dieſelbigen Faͤhigkeiten des Gefuͤhls, des Ver- ſtandes und Herzens; es koͤnne alſo an eben der Seite ausgebildet werden, wie ein anderes. Das wohl: aber beſitzet es dieſe Anlagen in gleichem Grade der Lebhaftig- keit und Staͤrke? Man wird leicht bemerken, wenn man die Werke der Genies vergleichet, daß die Fein- heit des Geſchmacks an Werken des Witzes und der Kunſt, die zaͤrtliche Neigung zu dem, was wahr, was gerecht und anſtaͤndig iſt und dergleichen, etwas mehr in der Seele zum Grunde habe als ein gemeines Gefuͤhl fuͤr ſolche Verhaͤltniſſe, das allen Menſchen zukommt, oder durch Erziehung in alle gebracht werden kann. Nicht jeder, der aufgelegt iſt Verſe zu machen, hat die Anlage zum epiſchen Dichter; nicht jeder, der ſo viel Ueberlegungskraft beſitzet als zu dem gemeinen Men- ſchenverſtand erfodert wird, iſt aufgelegt ein Vaucan- ſon, ein Newton oder ein Leibnitz zu werden. Wer kann ſich hier den großen Beytrag der angebornen Staͤrke der innern Natur wegraiſonniren laſſen? Ein anders aber iſt es, der Natur alles zuſchreiben. Jn Hinſicht der Nationalcharaktere mag es viel ſchwerer ſeyn, ſolche Erfahrungen beyzubringen, aus welchen die angeborne Verſchiedenheit ſo offenbar erhelle. Wie wuͤrden ſich z. E. die Kinder der Paraguayer ver- halten, wenn ſie, von ihrer erſten Geburt an, in Eu- ropa erzogen und europaͤiſch unterrichtet wuͤrden? Soll- ten nicht die kleinern Eigenheiten, die ihrem Naturell ankleben, unkenntlich werden muͤſſen? Es iſt zu glau- ben, daß ſie es wuͤrden; aber wenn man dabey acht haͤt- te, auf die Schwierigkeiten, die ein Erzieher bey dieſen mehr als bey europaͤiſchen Kindern antrift, um ſie wie dieſe zu bilden: ſo muͤßte ſich die Wirkung ihres Na- turells

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 560. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/590>, abgerufen am 25.11.2024.