der Kopf jedes unmittelbare Urtheil gleich geschwind faßt. Und wenn nun zwar bey einzelnen Urtheilen die- ser Zeitunterschied unmerklich ist, so offenbaret er sich ge- nug bey einer längern Reihe derselben. Man konnte auf eine ähnliche Art beweisen, daß die Schnecke und der Läufer eine gleiche Geschwindigkeit besitzen müssen. Den Unterschied am Verstande leitet Helvetius aus dem Unterschied an Leidenschaften her, und setzet von neuem voraus, daß alle Menschen von Natur gleich star- ker Leidenschaften fähig sind; daß also nur die Leiden- schaft des Einfältigen hätte auf Verstandesthätigkeiten, durch äußere Veranlassungen, in demselbigen Grade er- reget werden dürfen, wie bey den philosophischen Genies, die den innern Trieb zum Nachdenken fühlen, um einen großen Denker aus dem gemacht zu haben der nun ein Dummkopf ist. Dieß heißet eine Wirkung aus einer an- dern erklären, die ihr ähnlich ist und denselbigen Grund hat. Denn dieß, daß in dem Einfältigen die Begier- de zu Verstandesbeschäftigungen so schwach ist, und durch die ganze Kunst der Anweisung nicht bey ihm er- reget werden kann, die doch bey andern von selbst her- vorbricht, ist, eben so wie der schwache Gebrauch der Kräfte selbst, eine Folge von ihrer natürlichen Schwä- che, die alle Anstrengung mühsam und verdrüslich macht. Helvetius Beweis ist wenigstens noch so man- gelhaft, als er vorher war. Er setzet voraus, daß die Empfänglichkeit der Menschen, in Hinsicht der Lust und Liebe zu den verschiedenen Seelenäußerungen, von Na- tur bey allen gleich sey. Eine eben so unwahrscheinli- che Voraussetzung, als daß die angebornen Vermögen gleich sind.
Die angeborne Verschiedenheit bestehet freylich nur in einem Unterschied an Stufen und Graden, nicht da- rinn, daß Eins von dem Grundvermögen der Seele in irgend einem völlig organisirten Menschen fehlen sollte.
So
XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Kopf jedes unmittelbare Urtheil gleich geſchwind faßt. Und wenn nun zwar bey einzelnen Urtheilen die- ſer Zeitunterſchied unmerklich iſt, ſo offenbaret er ſich ge- nug bey einer laͤngern Reihe derſelben. Man konnte auf eine aͤhnliche Art beweiſen, daß die Schnecke und der Laͤufer eine gleiche Geſchwindigkeit beſitzen muͤſſen. Den Unterſchied am Verſtande leitet Helvetius aus dem Unterſchied an Leidenſchaften her, und ſetzet von neuem voraus, daß alle Menſchen von Natur gleich ſtar- ker Leidenſchaften faͤhig ſind; daß alſo nur die Leiden- ſchaft des Einfaͤltigen haͤtte auf Verſtandesthaͤtigkeiten, durch aͤußere Veranlaſſungen, in demſelbigen Grade er- reget werden duͤrfen, wie bey den philoſophiſchen Genies, die den innern Trieb zum Nachdenken fuͤhlen, um einen großen Denker aus dem gemacht zu haben der nun ein Dummkopf iſt. Dieß heißet eine Wirkung aus einer an- dern erklaͤren, die ihr aͤhnlich iſt und denſelbigen Grund hat. Denn dieß, daß in dem Einfaͤltigen die Begier- de zu Verſtandesbeſchaͤftigungen ſo ſchwach iſt, und durch die ganze Kunſt der Anweiſung nicht bey ihm er- reget werden kann, die doch bey andern von ſelbſt her- vorbricht, iſt, eben ſo wie der ſchwache Gebrauch der Kraͤfte ſelbſt, eine Folge von ihrer natuͤrlichen Schwaͤ- che, die alle Anſtrengung muͤhſam und verdruͤslich macht. Helvetius Beweis iſt wenigſtens noch ſo man- gelhaft, als er vorher war. Er ſetzet voraus, daß die Empfaͤnglichkeit der Menſchen, in Hinſicht der Luſt und Liebe zu den verſchiedenen Seelenaͤußerungen, von Na- tur bey allen gleich ſey. Eine eben ſo unwahrſcheinli- che Vorausſetzung, als daß die angebornen Vermoͤgen gleich ſind.
Die angeborne Verſchiedenheit beſtehet freylich nur in einem Unterſchied an Stufen und Graden, nicht da- rinn, daß Eins von dem Grundvermoͤgen der Seele in irgend einem voͤllig organiſirten Menſchen fehlen ſollte.
So
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XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
der Kopf jedes unmittelbare Urtheil gleich geſchwind
faßt. Und wenn nun zwar bey einzelnen Urtheilen die-
ſer Zeitunterſchied unmerklich iſt, ſo offenbaret er ſich ge-
nug bey einer laͤngern Reihe derſelben. Man konnte
auf eine aͤhnliche Art beweiſen, daß die Schnecke und
der Laͤufer eine gleiche Geſchwindigkeit beſitzen muͤſſen.
Den Unterſchied am Verſtande leitet Helvetius aus
dem Unterſchied an Leidenſchaften her, und ſetzet von
neuem voraus, daß alle Menſchen von Natur gleich ſtar-
ker Leidenſchaften faͤhig ſind; daß alſo nur die Leiden-
ſchaft des Einfaͤltigen haͤtte auf Verſtandesthaͤtigkeiten,
durch aͤußere Veranlaſſungen, in demſelbigen Grade er-
reget werden duͤrfen, wie bey den philoſophiſchen Genies,
die den innern Trieb zum Nachdenken fuͤhlen, um einen
großen Denker aus dem gemacht zu haben der nun ein
Dummkopf iſt. Dieß heißet eine Wirkung aus einer an-
dern erklaͤren, die ihr aͤhnlich iſt und denſelbigen Grund
hat. Denn dieß, daß in dem Einfaͤltigen die Begier-
de zu Verſtandesbeſchaͤftigungen ſo ſchwach iſt, und
durch die ganze Kunſt der Anweiſung nicht bey ihm er-
reget werden kann, die doch bey andern von ſelbſt her-
vorbricht, iſt, eben ſo wie der ſchwache Gebrauch der
Kraͤfte ſelbſt, eine Folge von ihrer natuͤrlichen Schwaͤ-
che, die alle Anſtrengung muͤhſam und verdruͤslich
macht. Helvetius Beweis iſt wenigſtens noch ſo man-
gelhaft, als er vorher war. Er ſetzet voraus, daß die
Empfaͤnglichkeit der Menſchen, in Hinſicht der Luſt und
Liebe zu den verſchiedenen Seelenaͤußerungen, von Na-
tur bey allen gleich ſey. Eine eben ſo unwahrſcheinli-
che Vorausſetzung, als daß die angebornen Vermoͤgen
gleich ſind.
Die angeborne Verſchiedenheit beſtehet freylich nur
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 558. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/588>, abgerufen am 16.02.2025.
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