Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
gen, die zu gewissen wesentlichen Formen bey ihrer
weitern Entwickelung hinführen, und solche nothwendig
bestimmen. Sie kann entweder gar nicht, oder sie muß
auf solche Art, wie es diesen wesentlichen Anlagen gemäß
ist, entwickelt werden. Denn daß die Kinderseele sollte
Bär- oder Schafseele werden können, ist eben so we-
nig möglich, als daß sein Körper vier Füße und Wolle
bekommen kann, wenn gleich manche Aehnlichkeiten
von Bären und Schafen, der Seele wie dem Körper,
unter solchen unglücklichen Umständen, worunter einige
Jndividuen gewesen sind, aufgedruckt werden möchten.

Und wenn wir noch weiter zurückgehen, bis zu der
Einrichtung der Seele in dem Anfang der Entwickelung
des Embryons, so deucht mich, man könne der Analo-
gie auch hier folgen, und sich eine in gleicher Maße be-
stimmte Natur in der Seele vorstellen, wie man in dem
befruchteten Keim des Körpers annehmen muß. Aus
diesem letztern wird entweder nichts, wenigstens nichts
Bestehendes, oder es wird ein menschlicher Körper dar-
aus, wenn er gleich monströs seyn mag. Auf gleiche
Weise ist die derzeitige Anlage der Seele so weit be-
stimmt, daß sie entweder gar nicht erweitert und entwi-
ckelt wird, oder zu einer fühlenden, vorstellenden und
selbstthätigen Menschenseele entwickelt werden muß.

Das Seelenwesen und in demselben das unkörper-
liche Jch muß, woferne wir eine wirkliche Substanz
nicht mit einer Abstraktion verwechseln, völlig und in
aller Hinsicht bestimmt seyn, wie es die Organisation
des Körpers ist. Aber so wie diese Bestimmtheit,
auch nur in Hinsicht auf die Modifikationen betrachtet,
welche der Körper zunächst und unmittelbar annehmen
kann, bey ihm in verschiedenen Graden mehr oder
minder veränderlich ist; in Hinsicht auf einige nur in ei-
ner bloß passiven Empfänglichkeit bestehet, in Hinsicht
auf andere in schwachen Anlagen, bey andern in nä-

hern

und Entwickelung des Menſchen.
gen, die zu gewiſſen weſentlichen Formen bey ihrer
weitern Entwickelung hinfuͤhren, und ſolche nothwendig
beſtimmen. Sie kann entweder gar nicht, oder ſie muß
auf ſolche Art, wie es dieſen weſentlichen Anlagen gemaͤß
iſt, entwickelt werden. Denn daß die Kinderſeele ſollte
Baͤr- oder Schafſeele werden koͤnnen, iſt eben ſo we-
nig moͤglich, als daß ſein Koͤrper vier Fuͤße und Wolle
bekommen kann, wenn gleich manche Aehnlichkeiten
von Baͤren und Schafen, der Seele wie dem Koͤrper,
unter ſolchen ungluͤcklichen Umſtaͤnden, worunter einige
Jndividuen geweſen ſind, aufgedruckt werden moͤchten.

Und wenn wir noch weiter zuruͤckgehen, bis zu der
Einrichtung der Seele in dem Anfang der Entwickelung
des Embryons, ſo deucht mich, man koͤnne der Analo-
gie auch hier folgen, und ſich eine in gleicher Maße be-
ſtimmte Natur in der Seele vorſtellen, wie man in dem
befruchteten Keim des Koͤrpers annehmen muß. Aus
dieſem letztern wird entweder nichts, wenigſtens nichts
Beſtehendes, oder es wird ein menſchlicher Koͤrper dar-
aus, wenn er gleich monſtroͤs ſeyn mag. Auf gleiche
Weiſe iſt die derzeitige Anlage der Seele ſo weit be-
ſtimmt, daß ſie entweder gar nicht erweitert und entwi-
ckelt wird, oder zu einer fuͤhlenden, vorſtellenden und
ſelbſtthaͤtigen Menſchenſeele entwickelt werden muß.

Das Seelenweſen und in demſelben das unkoͤrper-
liche Jch muß, woferne wir eine wirkliche Subſtanz
nicht mit einer Abſtraktion verwechſeln, voͤllig und in
aller Hinſicht beſtimmt ſeyn, wie es die Organiſation
des Koͤrpers iſt. Aber ſo wie dieſe Beſtimmtheit,
auch nur in Hinſicht auf die Modifikationen betrachtet,
welche der Koͤrper zunaͤchſt und unmittelbar annehmen
kann, bey ihm in verſchiedenen Graden mehr oder
minder veraͤnderlich iſt; in Hinſicht auf einige nur in ei-
ner bloß paſſiven Empfaͤnglichkeit beſtehet, in Hinſicht
auf andere in ſchwachen Anlagen, bey andern in naͤ-

hern
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0573" n="543"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
gen, die zu gewi&#x017F;&#x017F;en <hi rendition="#fr">we&#x017F;entlichen</hi> Formen bey ihrer<lb/>
weitern Entwickelung hinfu&#x0364;hren, und &#x017F;olche nothwendig<lb/>
be&#x017F;timmen. Sie kann entweder gar nicht, oder &#x017F;ie muß<lb/>
auf &#x017F;olche Art, wie es die&#x017F;en we&#x017F;entlichen Anlagen gema&#x0364;ß<lb/>
i&#x017F;t, entwickelt werden. Denn daß die Kinder&#x017F;eele &#x017F;ollte<lb/>
Ba&#x0364;r- oder Schaf&#x017F;eele werden ko&#x0364;nnen, i&#x017F;t eben &#x017F;o we-<lb/>
nig mo&#x0364;glich, als daß &#x017F;ein Ko&#x0364;rper vier Fu&#x0364;ße und Wolle<lb/>
bekommen kann, wenn gleich manche Aehnlichkeiten<lb/>
von Ba&#x0364;ren und Schafen, der Seele wie dem Ko&#x0364;rper,<lb/>
unter &#x017F;olchen unglu&#x0364;cklichen Um&#x017F;ta&#x0364;nden, worunter einige<lb/>
Jndividuen gewe&#x017F;en &#x017F;ind, aufgedruckt werden mo&#x0364;chten.</p><lb/>
            <p>Und wenn wir noch weiter zuru&#x0364;ckgehen, bis zu der<lb/>
Einrichtung der Seele in dem Anfang der Entwickelung<lb/>
des Embryons, &#x017F;o deucht mich, man ko&#x0364;nne der Analo-<lb/>
gie auch hier folgen, und &#x017F;ich eine in gleicher Maße be-<lb/>
&#x017F;timmte Natur in der Seele vor&#x017F;tellen, wie man in dem<lb/>
befruchteten Keim des Ko&#x0364;rpers annehmen muß. Aus<lb/>
die&#x017F;em letztern wird entweder nichts, wenig&#x017F;tens nichts<lb/>
Be&#x017F;tehendes, oder es wird ein men&#x017F;chlicher Ko&#x0364;rper dar-<lb/>
aus, wenn er gleich mon&#x017F;tro&#x0364;s &#x017F;eyn mag. Auf gleiche<lb/>
Wei&#x017F;e i&#x017F;t die derzeitige Anlage der Seele &#x017F;o weit be-<lb/>
&#x017F;timmt, daß &#x017F;ie entweder gar nicht erweitert und entwi-<lb/>
ckelt wird, oder zu einer fu&#x0364;hlenden, vor&#x017F;tellenden und<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;ttha&#x0364;tigen Men&#x017F;chen&#x017F;eele entwickelt werden muß.</p><lb/>
            <p>Das Seelenwe&#x017F;en und in dem&#x017F;elben das unko&#x0364;rper-<lb/>
liche Jch muß, woferne wir eine wirkliche Sub&#x017F;tanz<lb/>
nicht mit einer Ab&#x017F;traktion verwech&#x017F;eln, vo&#x0364;llig und in<lb/>
aller Hin&#x017F;icht be&#x017F;timmt &#x017F;eyn, wie es die Organi&#x017F;ation<lb/>
des Ko&#x0364;rpers i&#x017F;t. Aber &#x017F;o wie die&#x017F;e Be&#x017F;timmtheit,<lb/>
auch nur in Hin&#x017F;icht auf die Modifikationen betrachtet,<lb/>
welche der Ko&#x0364;rper zuna&#x0364;ch&#x017F;t und unmittelbar annehmen<lb/>
kann, bey ihm in ver&#x017F;chiedenen Graden mehr oder<lb/>
minder vera&#x0364;nderlich i&#x017F;t; in Hin&#x017F;icht auf einige nur in ei-<lb/>
ner bloß pa&#x017F;&#x017F;iven Empfa&#x0364;nglichkeit be&#x017F;tehet, in Hin&#x017F;icht<lb/>
auf andere in &#x017F;chwachen Anlagen, bey andern in na&#x0364;-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">hern</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[543/0573] und Entwickelung des Menſchen. gen, die zu gewiſſen weſentlichen Formen bey ihrer weitern Entwickelung hinfuͤhren, und ſolche nothwendig beſtimmen. Sie kann entweder gar nicht, oder ſie muß auf ſolche Art, wie es dieſen weſentlichen Anlagen gemaͤß iſt, entwickelt werden. Denn daß die Kinderſeele ſollte Baͤr- oder Schafſeele werden koͤnnen, iſt eben ſo we- nig moͤglich, als daß ſein Koͤrper vier Fuͤße und Wolle bekommen kann, wenn gleich manche Aehnlichkeiten von Baͤren und Schafen, der Seele wie dem Koͤrper, unter ſolchen ungluͤcklichen Umſtaͤnden, worunter einige Jndividuen geweſen ſind, aufgedruckt werden moͤchten. Und wenn wir noch weiter zuruͤckgehen, bis zu der Einrichtung der Seele in dem Anfang der Entwickelung des Embryons, ſo deucht mich, man koͤnne der Analo- gie auch hier folgen, und ſich eine in gleicher Maße be- ſtimmte Natur in der Seele vorſtellen, wie man in dem befruchteten Keim des Koͤrpers annehmen muß. Aus dieſem letztern wird entweder nichts, wenigſtens nichts Beſtehendes, oder es wird ein menſchlicher Koͤrper dar- aus, wenn er gleich monſtroͤs ſeyn mag. Auf gleiche Weiſe iſt die derzeitige Anlage der Seele ſo weit be- ſtimmt, daß ſie entweder gar nicht erweitert und entwi- ckelt wird, oder zu einer fuͤhlenden, vorſtellenden und ſelbſtthaͤtigen Menſchenſeele entwickelt werden muß. Das Seelenweſen und in demſelben das unkoͤrper- liche Jch muß, woferne wir eine wirkliche Subſtanz nicht mit einer Abſtraktion verwechſeln, voͤllig und in aller Hinſicht beſtimmt ſeyn, wie es die Organiſation des Koͤrpers iſt. Aber ſo wie dieſe Beſtimmtheit, auch nur in Hinſicht auf die Modifikationen betrachtet, welche der Koͤrper zunaͤchſt und unmittelbar annehmen kann, bey ihm in verſchiedenen Graden mehr oder minder veraͤnderlich iſt; in Hinſicht auf einige nur in ei- ner bloß paſſiven Empfaͤnglichkeit beſtehet, in Hinſicht auf andere in ſchwachen Anlagen, bey andern in naͤ- hern

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/573
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 543. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/573>, abgerufen am 22.11.2024.