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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
es nur in Hinsicht ihrer wesentlichsten Punkte,
von denen die ganze Aktion abgehangen hat. Sie
werden beurtheilt und benennt nach diesem wichtigsten
Theile; und man hat, um diese Beurtheilung zu er-
leichtern, die bekannte Unterscheidung unter solchen
Handlungen, die unmittelbar frey sind, und solchen,
die es nur mittelbar sind, eingeführt. Von jenen
ist hier aber allein die Rede, als solchen, die nur im ei-
gentlichen Verstande freye Handlungen sind. Zuwei-
len ist nur der erste Ansatz zur Aktion eine freye Thätig-
keit; in allen folgenden kann sich die Seelenkraft mit
solcher Stärke ergossen haben, oder mit solcher Gewalt
fortgetrieben worden seyn, daß es ihr unmöglich war
sich zu halten, wie ein Mensch, der vom Berge herun-
ter läuft, am Ende mehr durch die Kraft der vorher-
gehenden Bewegung fortgerissen wird, als selbst noch
fortgehet. Oft finden sich mehrere solcher frey fortge-
setzten Schritte auf demselbigen Wege, die hie und da
zwischen den übrigen zerstreuet sind, und mit den un-
freyen Fortgängen abwechseln, wozu die innere Natur,
und die zunächst vorhergehenden Umstände sie unwider-
stehlich fortreißen. Jch setze mich zum Nachdenken hin,
das ist eine freye Handlung; es entstehen Verbindun-
gen der Begriffe, Urtheile, fortgezogene Schlüsse.
Da sind Reihen von wiedererweckten Jdeen, die so
schnell eine auf die andere folgen, daß man überraschet
und unvermögend wird, dazwischen zu kommen, oder
den Faden zu zerschneiden, und nur allein bey irgend
einem merklichen Absatze abbrechen kann. Aber dage-
gen giebt es so viele Stellen, die in der Empfindung
deutlich genug erkannt werden können, wo man es füh-
let, daß ein neuer Ansatz der Kraft, oder eine stärkere
Jntension des vorigen Bestrebens erfodert wird, wie
bey einem Menschen, der in die Höhe steiget. Und an
diesen Stellen, und bey diesen Schritten fühlet die Seele

sich

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
es nur in Hinſicht ihrer weſentlichſten Punkte,
von denen die ganze Aktion abgehangen hat. Sie
werden beurtheilt und benennt nach dieſem wichtigſten
Theile; und man hat, um dieſe Beurtheilung zu er-
leichtern, die bekannte Unterſcheidung unter ſolchen
Handlungen, die unmittelbar frey ſind, und ſolchen,
die es nur mittelbar ſind, eingefuͤhrt. Von jenen
iſt hier aber allein die Rede, als ſolchen, die nur im ei-
gentlichen Verſtande freye Handlungen ſind. Zuwei-
len iſt nur der erſte Anſatz zur Aktion eine freye Thaͤtig-
keit; in allen folgenden kann ſich die Seelenkraft mit
ſolcher Staͤrke ergoſſen haben, oder mit ſolcher Gewalt
fortgetrieben worden ſeyn, daß es ihr unmoͤglich war
ſich zu halten, wie ein Menſch, der vom Berge herun-
ter laͤuft, am Ende mehr durch die Kraft der vorher-
gehenden Bewegung fortgeriſſen wird, als ſelbſt noch
fortgehet. Oft finden ſich mehrere ſolcher frey fortge-
ſetzten Schritte auf demſelbigen Wege, die hie und da
zwiſchen den uͤbrigen zerſtreuet ſind, und mit den un-
freyen Fortgaͤngen abwechſeln, wozu die innere Natur,
und die zunaͤchſt vorhergehenden Umſtaͤnde ſie unwider-
ſtehlich fortreißen. Jch ſetze mich zum Nachdenken hin,
das iſt eine freye Handlung; es entſtehen Verbindun-
gen der Begriffe, Urtheile, fortgezogene Schluͤſſe.
Da ſind Reihen von wiedererweckten Jdeen, die ſo
ſchnell eine auf die andere folgen, daß man uͤberraſchet
und unvermoͤgend wird, dazwiſchen zu kommen, oder
den Faden zu zerſchneiden, und nur allein bey irgend
einem merklichen Abſatze abbrechen kann. Aber dage-
gen giebt es ſo viele Stellen, die in der Empfindung
deutlich genug erkannt werden koͤnnen, wo man es fuͤh-
let, daß ein neuer Anſatz der Kraft, oder eine ſtaͤrkere
Jntenſion des vorigen Beſtrebens erfodert wird, wie
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dieſen Stellen, und bey dieſen Schritten fuͤhlet die Seele

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[22/0052] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit es nur in Hinſicht ihrer weſentlichſten Punkte, von denen die ganze Aktion abgehangen hat. Sie werden beurtheilt und benennt nach dieſem wichtigſten Theile; und man hat, um dieſe Beurtheilung zu er- leichtern, die bekannte Unterſcheidung unter ſolchen Handlungen, die unmittelbar frey ſind, und ſolchen, die es nur mittelbar ſind, eingefuͤhrt. Von jenen iſt hier aber allein die Rede, als ſolchen, die nur im ei- gentlichen Verſtande freye Handlungen ſind. Zuwei- len iſt nur der erſte Anſatz zur Aktion eine freye Thaͤtig- keit; in allen folgenden kann ſich die Seelenkraft mit ſolcher Staͤrke ergoſſen haben, oder mit ſolcher Gewalt fortgetrieben worden ſeyn, daß es ihr unmoͤglich war ſich zu halten, wie ein Menſch, der vom Berge herun- ter laͤuft, am Ende mehr durch die Kraft der vorher- gehenden Bewegung fortgeriſſen wird, als ſelbſt noch fortgehet. Oft finden ſich mehrere ſolcher frey fortge- ſetzten Schritte auf demſelbigen Wege, die hie und da zwiſchen den uͤbrigen zerſtreuet ſind, und mit den un- freyen Fortgaͤngen abwechſeln, wozu die innere Natur, und die zunaͤchſt vorhergehenden Umſtaͤnde ſie unwider- ſtehlich fortreißen. Jch ſetze mich zum Nachdenken hin, das iſt eine freye Handlung; es entſtehen Verbindun- gen der Begriffe, Urtheile, fortgezogene Schluͤſſe. Da ſind Reihen von wiedererweckten Jdeen, die ſo ſchnell eine auf die andere folgen, daß man uͤberraſchet und unvermoͤgend wird, dazwiſchen zu kommen, oder den Faden zu zerſchneiden, und nur allein bey irgend einem merklichen Abſatze abbrechen kann. Aber dage- gen giebt es ſo viele Stellen, die in der Empfindung deutlich genug erkannt werden koͤnnen, wo man es fuͤh- let, daß ein neuer Anſatz der Kraft, oder eine ſtaͤrkere Jntenſion des vorigen Beſtrebens erfodert wird, wie bey einem Menſchen, der in die Hoͤhe ſteiget. Und an dieſen Stellen, und bey dieſen Schritten fuͤhlet die Seele ſich

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/52>, abgerufen am 22.11.2024.