Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
Grundgefühle dem Menschen bey. Außer dem Ge-
fühl des Schönen und des Häßlichen, des Rechten
und Unrechten, des Lobenswürdigen und des Tadel-
haften, findet Oswald noch ein Gefühl vom Daseyn
Gottes in ihm. Man kann diejenigen, die solche be-
stimmte Gefühle annehmen, als Vertheidiger der phy-
siologischen Evolution ansehen. Denn nach ihrer
Vorstellung müssen die Anlagen zu den verschiedenen
Arten der Empfindsamkeit oder der Thätigkeit von
Natur, ihren Anfängen nach im Kleinen, in der See-
le schon neben einander enthalten seyn, wie nach der
Jdee des Herrn Bonnets, in dem befruchteten Ey
und in dem keimenden Samen die Kanäle und Gefäße
des ganzen Körpers, ihrer Form und den Anlagen
nach gehölet sind. Und wie nach eben diesem Evolu-
tionssystem die Ausbildung des Körpers nichts anders
ist, als eine Vergrößerung in der Länge, Breite und
Dicke, eine Ausdehnung und Vermehrung der Masse,
ohne daß neue Formen hinzukommen, davon nicht die
Grundzüge vorher da sind: so sind es auch nach jenen
Begriffen die Arten der Thätigkeit, die Gefühle,
und die dazu gehörigen Vermögen in der Seele. Es
ist eine Folge aus diesem System, daß, wenn die Ge-
schichte des Menschen uns lehret, es mangele einigen
Jndividuen an besondern sinnlichen und moralischen
Gefühlen, welche doch bey andern sind, wie sie es von
ganzen Völkern lehret und bey unsern Kindern uns
täglich beobachten läßt, die Ursache davon diese sey,
daß die natürlichen schwachen Anlagen unentwickelt ge-
blieben, durch Hindernisse |zurückgehalten, oder durch
die stärkeren Gefühle anderer Bedürfnisse unterdrü-
cket worden sind. Nur die Gefühle selbst müssen von
Natur allen Menschen gemein seyn, ohne daß die nä-
hern Vermögen dazu, als neue Vermögen, in der Ent-
wickelung hinzugekommen wären. Wenn man hie-

bey
E e 2

und Entwickelung des Menſchen.
Grundgefuͤhle dem Menſchen bey. Außer dem Ge-
fuͤhl des Schoͤnen und des Haͤßlichen, des Rechten
und Unrechten, des Lobenswuͤrdigen und des Tadel-
haften, findet Oswald noch ein Gefuͤhl vom Daſeyn
Gottes in ihm. Man kann diejenigen, die ſolche be-
ſtimmte Gefuͤhle annehmen, als Vertheidiger der phy-
ſiologiſchen Evolution anſehen. Denn nach ihrer
Vorſtellung muͤſſen die Anlagen zu den verſchiedenen
Arten der Empfindſamkeit oder der Thaͤtigkeit von
Natur, ihren Anfaͤngen nach im Kleinen, in der See-
le ſchon neben einander enthalten ſeyn, wie nach der
Jdee des Herrn Bonnets, in dem befruchteten Ey
und in dem keimenden Samen die Kanaͤle und Gefaͤße
des ganzen Koͤrpers, ihrer Form und den Anlagen
nach gehoͤlet ſind. Und wie nach eben dieſem Evolu-
tionsſyſtem die Ausbildung des Koͤrpers nichts anders
iſt, als eine Vergroͤßerung in der Laͤnge, Breite und
Dicke, eine Ausdehnung und Vermehrung der Maſſe,
ohne daß neue Formen hinzukommen, davon nicht die
Grundzuͤge vorher da ſind: ſo ſind es auch nach jenen
Begriffen die Arten der Thaͤtigkeit, die Gefuͤhle,
und die dazu gehoͤrigen Vermoͤgen in der Seele. Es
iſt eine Folge aus dieſem Syſtem, daß, wenn die Ge-
ſchichte des Menſchen uns lehret, es mangele einigen
Jndividuen an beſondern ſinnlichen und moraliſchen
Gefuͤhlen, welche doch bey andern ſind, wie ſie es von
ganzen Voͤlkern lehret und bey unſern Kindern uns
taͤglich beobachten laͤßt, die Urſache davon dieſe ſey,
daß die natuͤrlichen ſchwachen Anlagen unentwickelt ge-
blieben, durch Hinderniſſe |zuruͤckgehalten, oder durch
die ſtaͤrkeren Gefuͤhle anderer Beduͤrfniſſe unterdruͤ-
cket worden ſind. Nur die Gefuͤhle ſelbſt muͤſſen von
Natur allen Menſchen gemein ſeyn, ohne daß die naͤ-
hern Vermoͤgen dazu, als neue Vermoͤgen, in der Ent-
wickelung hinzugekommen waͤren. Wenn man hie-

bey
E e 2
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0465" n="435"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
Grundgefu&#x0364;hle dem Men&#x017F;chen bey. Außer dem Ge-<lb/>
fu&#x0364;hl des Scho&#x0364;nen und des Ha&#x0364;ßlichen, des Rechten<lb/>
und Unrechten, des Lobenswu&#x0364;rdigen und des Tadel-<lb/>
haften, findet <hi rendition="#fr">Oswald</hi> noch ein Gefu&#x0364;hl vom Da&#x017F;eyn<lb/>
Gottes in ihm. Man kann diejenigen, die &#x017F;olche be-<lb/>
&#x017F;timmte Gefu&#x0364;hle annehmen, als Vertheidiger der phy-<lb/>
&#x017F;iologi&#x017F;chen Evolution an&#x017F;ehen. Denn nach ihrer<lb/>
Vor&#x017F;tellung mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en die Anlagen zu den ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Arten der Empfind&#x017F;amkeit oder der Tha&#x0364;tigkeit von<lb/>
Natur, ihren Anfa&#x0364;ngen nach im Kleinen, in der See-<lb/>
le &#x017F;chon neben einander enthalten &#x017F;eyn, wie nach der<lb/>
Jdee des Herrn <hi rendition="#fr">Bonnets,</hi> in dem befruchteten Ey<lb/>
und in dem keimenden Samen die Kana&#x0364;le und Gefa&#x0364;ße<lb/>
des ganzen Ko&#x0364;rpers, ihrer Form und den Anlagen<lb/>
nach geho&#x0364;let &#x017F;ind. Und wie nach eben die&#x017F;em Evolu-<lb/>
tions&#x017F;y&#x017F;tem die Ausbildung des Ko&#x0364;rpers nichts anders<lb/>
i&#x017F;t, als eine Vergro&#x0364;ßerung in der La&#x0364;nge, Breite und<lb/>
Dicke, eine Ausdehnung und Vermehrung der Ma&#x017F;&#x017F;e,<lb/>
ohne daß neue Formen hinzukommen, davon nicht die<lb/>
Grundzu&#x0364;ge vorher da &#x017F;ind: &#x017F;o &#x017F;ind es auch nach jenen<lb/>
Begriffen die Arten der Tha&#x0364;tigkeit, die Gefu&#x0364;hle,<lb/>
und die dazu geho&#x0364;rigen Vermo&#x0364;gen in der Seele. Es<lb/>
i&#x017F;t eine Folge aus die&#x017F;em Sy&#x017F;tem, daß, wenn die Ge-<lb/>
&#x017F;chichte des Men&#x017F;chen uns lehret, es mangele einigen<lb/>
Jndividuen an be&#x017F;ondern &#x017F;innlichen und morali&#x017F;chen<lb/>
Gefu&#x0364;hlen, welche doch bey andern &#x017F;ind, wie &#x017F;ie es von<lb/>
ganzen Vo&#x0364;lkern lehret und bey un&#x017F;ern Kindern uns<lb/>
ta&#x0364;glich beobachten la&#x0364;ßt, die Ur&#x017F;ache davon die&#x017F;e &#x017F;ey,<lb/>
daß die natu&#x0364;rlichen &#x017F;chwachen Anlagen unentwickelt ge-<lb/>
blieben, durch Hinderni&#x017F;&#x017F;e |zuru&#x0364;ckgehalten, oder durch<lb/>
die &#x017F;ta&#x0364;rkeren Gefu&#x0364;hle anderer Bedu&#x0364;rfni&#x017F;&#x017F;e unterdru&#x0364;-<lb/>
cket worden &#x017F;ind. Nur die Gefu&#x0364;hle &#x017F;elb&#x017F;t mu&#x0364;&#x017F;&#x017F;en von<lb/>
Natur allen Men&#x017F;chen gemein &#x017F;eyn, ohne daß die na&#x0364;-<lb/>
hern Vermo&#x0364;gen dazu, als <hi rendition="#fr">neue</hi> Vermo&#x0364;gen, in der Ent-<lb/>
wickelung hinzugekommen wa&#x0364;ren. Wenn man hie-<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">E e 2</fw><fw place="bottom" type="catch">bey</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[435/0465] und Entwickelung des Menſchen. Grundgefuͤhle dem Menſchen bey. Außer dem Ge- fuͤhl des Schoͤnen und des Haͤßlichen, des Rechten und Unrechten, des Lobenswuͤrdigen und des Tadel- haften, findet Oswald noch ein Gefuͤhl vom Daſeyn Gottes in ihm. Man kann diejenigen, die ſolche be- ſtimmte Gefuͤhle annehmen, als Vertheidiger der phy- ſiologiſchen Evolution anſehen. Denn nach ihrer Vorſtellung muͤſſen die Anlagen zu den verſchiedenen Arten der Empfindſamkeit oder der Thaͤtigkeit von Natur, ihren Anfaͤngen nach im Kleinen, in der See- le ſchon neben einander enthalten ſeyn, wie nach der Jdee des Herrn Bonnets, in dem befruchteten Ey und in dem keimenden Samen die Kanaͤle und Gefaͤße des ganzen Koͤrpers, ihrer Form und den Anlagen nach gehoͤlet ſind. Und wie nach eben dieſem Evolu- tionsſyſtem die Ausbildung des Koͤrpers nichts anders iſt, als eine Vergroͤßerung in der Laͤnge, Breite und Dicke, eine Ausdehnung und Vermehrung der Maſſe, ohne daß neue Formen hinzukommen, davon nicht die Grundzuͤge vorher da ſind: ſo ſind es auch nach jenen Begriffen die Arten der Thaͤtigkeit, die Gefuͤhle, und die dazu gehoͤrigen Vermoͤgen in der Seele. Es iſt eine Folge aus dieſem Syſtem, daß, wenn die Ge- ſchichte des Menſchen uns lehret, es mangele einigen Jndividuen an beſondern ſinnlichen und moraliſchen Gefuͤhlen, welche doch bey andern ſind, wie ſie es von ganzen Voͤlkern lehret und bey unſern Kindern uns taͤglich beobachten laͤßt, die Urſache davon dieſe ſey, daß die natuͤrlichen ſchwachen Anlagen unentwickelt ge- blieben, durch Hinderniſſe |zuruͤckgehalten, oder durch die ſtaͤrkeren Gefuͤhle anderer Beduͤrfniſſe unterdruͤ- cket worden ſind. Nur die Gefuͤhle ſelbſt muͤſſen von Natur allen Menſchen gemein ſeyn, ohne daß die naͤ- hern Vermoͤgen dazu, als neue Vermoͤgen, in der Ent- wickelung hinzugekommen waͤren. Wenn man hie- bey E e 2

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/465
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 435. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/465>, abgerufen am 24.11.2024.