Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Entwickelung des Menschen.
innere Jntension der Vermögen erhält keinen
merklichen Anwachs mehr. Newtons natürlicher
Verstand war vielleicht vor seinem dreyßigsten Jahre
eben so mächtig, anhaltend und eindringend, als nach
seinem funfzigsten, obgleich die Einsichten und Arbei-
ten sich erstaunlich vermehrt hatten. Sollte das
Feuer der Dichtkraft in Klopstock nicht wohl eben so
stark gebrannt haben, zu der Zeit, da er seine Messia-
de anfieng, als da er sie endigte? Jn einer gewissen
Hinsicht werden die beiden Arten des Zunehmens ein-
ander gar hinderlich, wie die gemeine Erfahrung leh-
ret. Schulwitz erstickt oft den Mutterwitz, und eine
allzustarke Aufhäufung der Jdeen im Gedächniß, setzet
den natürlichen Verstand mehr herunter, als sie ihm
auf hilft.

Wie das zugehe? warum nicht jedwede der fol-
genden Kraftäußerungen eben sowohl eine Spur hinter-
lasse, wodurch die Leichtigkeit, so zu wirken, vergrös-
sert wird, wie die erstere, da sie die Vorstellungen
von den Objekten vermehret? läßt sich aus dem obi-
gen erklären. Die Spur, welche von einer Seelen-
äußerung zurückbleibet, kann immer zwar noch ein
etwas seyn, so groß die Fertigkeit schon ist, aber des-
wegen doch etwas sehr geringes, ein unbemerkbares, ein
unendlichkleines. Wenn schon eine große Fertigkeit
vorhanden ist, so besteht die Aeußerung derselben
mehr in einer passiven Reproduktion der Jdeenreihen,
als in einer Anstrengung der thätigen Kraft selbst.
Daher kann für sich der Zuwachs der Fertigkeit nicht
groß seyn. Denn Unthätigkeit schwächt die erworbe-
nen Fertigkeiten. Es kann also in einer Aktion so we-
nig Selbstthätigkeit der Seele enthalten seyn, daß
solches kaum hinreicht, um nur die vorige Größe zu
erhalten. Uebrigens aber kann man auch nicht schlies-
sen, daß eine Kraft, die so viele und mannichfaltige

re-
II Theil. E e

und Entwickelung des Menſchen.
innere Jntenſion der Vermoͤgen erhaͤlt keinen
merklichen Anwachs mehr. Newtons natuͤrlicher
Verſtand war vielleicht vor ſeinem dreyßigſten Jahre
eben ſo maͤchtig, anhaltend und eindringend, als nach
ſeinem funfzigſten, obgleich die Einſichten und Arbei-
ten ſich erſtaunlich vermehrt hatten. Sollte das
Feuer der Dichtkraft in Klopſtock nicht wohl eben ſo
ſtark gebrannt haben, zu der Zeit, da er ſeine Meſſia-
de anfieng, als da er ſie endigte? Jn einer gewiſſen
Hinſicht werden die beiden Arten des Zunehmens ein-
ander gar hinderlich, wie die gemeine Erfahrung leh-
ret. Schulwitz erſtickt oft den Mutterwitz, und eine
allzuſtarke Aufhaͤufung der Jdeen im Gedaͤchniß, ſetzet
den natuͤrlichen Verſtand mehr herunter, als ſie ihm
auf hilft.

Wie das zugehe? warum nicht jedwede der fol-
genden Kraftaͤußerungen eben ſowohl eine Spur hinter-
laſſe, wodurch die Leichtigkeit, ſo zu wirken, vergroͤſ-
ſert wird, wie die erſtere, da ſie die Vorſtellungen
von den Objekten vermehret? laͤßt ſich aus dem obi-
gen erklaͤren. Die Spur, welche von einer Seelen-
aͤußerung zuruͤckbleibet, kann immer zwar noch ein
etwas ſeyn, ſo groß die Fertigkeit ſchon iſt, aber des-
wegen doch etwas ſehr geringes, ein unbemerkbares, ein
unendlichkleines. Wenn ſchon eine große Fertigkeit
vorhanden iſt, ſo beſteht die Aeußerung derſelben
mehr in einer paſſiven Reproduktion der Jdeenreihen,
als in einer Anſtrengung der thaͤtigen Kraft ſelbſt.
Daher kann fuͤr ſich der Zuwachs der Fertigkeit nicht
groß ſeyn. Denn Unthaͤtigkeit ſchwaͤcht die erworbe-
nen Fertigkeiten. Es kann alſo in einer Aktion ſo we-
nig Selbſtthaͤtigkeit der Seele enthalten ſeyn, daß
ſolches kaum hinreicht, um nur die vorige Groͤße zu
erhalten. Uebrigens aber kann man auch nicht ſchlieſ-
ſen, daß eine Kraft, die ſo viele und mannichfaltige

re-
II Theil. E e
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p><pb facs="#f0463" n="433"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Entwickelung des Men&#x017F;chen.</hi></fw><lb/>
innere <hi rendition="#fr">Jnten&#x017F;ion der Vermo&#x0364;gen</hi> erha&#x0364;lt keinen<lb/>
merklichen Anwachs mehr. <hi rendition="#fr">Newtons</hi> natu&#x0364;rlicher<lb/>
Ver&#x017F;tand war vielleicht vor &#x017F;einem dreyßig&#x017F;ten Jahre<lb/>
eben &#x017F;o ma&#x0364;chtig, anhaltend und eindringend, als nach<lb/>
&#x017F;einem funfzig&#x017F;ten, obgleich die Ein&#x017F;ichten und Arbei-<lb/>
ten &#x017F;ich er&#x017F;taunlich vermehrt hatten. Sollte das<lb/>
Feuer der Dichtkraft in Klop&#x017F;tock nicht wohl eben &#x017F;o<lb/>
&#x017F;tark gebrannt haben, zu der Zeit, da er &#x017F;eine Me&#x017F;&#x017F;ia-<lb/>
de anfieng, als da er &#x017F;ie endigte? Jn einer gewi&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Hin&#x017F;icht werden die beiden Arten des Zunehmens ein-<lb/>
ander gar hinderlich, wie die gemeine Erfahrung leh-<lb/>
ret. Schulwitz er&#x017F;tickt oft den Mutterwitz, und eine<lb/>
allzu&#x017F;tarke Aufha&#x0364;ufung der Jdeen im Geda&#x0364;chniß, &#x017F;etzet<lb/>
den natu&#x0364;rlichen Ver&#x017F;tand mehr herunter, als &#x017F;ie ihm<lb/>
auf hilft.</p><lb/>
              <p>Wie das zugehe? warum nicht jedwede der fol-<lb/>
genden Krafta&#x0364;ußerungen eben &#x017F;owohl eine Spur hinter-<lb/>
la&#x017F;&#x017F;e, wodurch die Leichtigkeit, &#x017F;o zu wirken, vergro&#x0364;&#x017F;-<lb/>
&#x017F;ert wird, wie die er&#x017F;tere, da &#x017F;ie die Vor&#x017F;tellungen<lb/>
von den Objekten vermehret? la&#x0364;ßt &#x017F;ich aus dem obi-<lb/>
gen erkla&#x0364;ren. Die Spur, welche von einer Seelen-<lb/>
a&#x0364;ußerung zuru&#x0364;ckbleibet, kann immer zwar noch ein<lb/>
etwas &#x017F;eyn, &#x017F;o groß die Fertigkeit &#x017F;chon i&#x017F;t, aber des-<lb/>
wegen doch etwas &#x017F;ehr geringes, ein unbemerkbares, ein<lb/>
unendlichkleines. Wenn &#x017F;chon eine große Fertigkeit<lb/>
vorhanden i&#x017F;t, &#x017F;o be&#x017F;teht die Aeußerung der&#x017F;elben<lb/>
mehr in einer pa&#x017F;&#x017F;iven Reproduktion der Jdeenreihen,<lb/>
als in einer An&#x017F;trengung der tha&#x0364;tigen Kraft &#x017F;elb&#x017F;t.<lb/>
Daher kann fu&#x0364;r &#x017F;ich der Zuwachs der Fertigkeit nicht<lb/>
groß &#x017F;eyn. Denn Untha&#x0364;tigkeit &#x017F;chwa&#x0364;cht die erworbe-<lb/>
nen Fertigkeiten. Es kann al&#x017F;o in einer Aktion &#x017F;o we-<lb/>
nig Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit der Seele enthalten &#x017F;eyn, daß<lb/>
&#x017F;olches kaum hinreicht, um nur die vorige Gro&#x0364;ße zu<lb/>
erhalten. Uebrigens aber kann man auch nicht &#x017F;chlie&#x017F;-<lb/>
&#x017F;en, daß eine Kraft, die &#x017F;o viele und mannichfaltige<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#aq">II</hi><hi rendition="#fr">Theil.</hi> E e</fw><fw place="bottom" type="catch">re-</fw><lb/></p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[433/0463] und Entwickelung des Menſchen. innere Jntenſion der Vermoͤgen erhaͤlt keinen merklichen Anwachs mehr. Newtons natuͤrlicher Verſtand war vielleicht vor ſeinem dreyßigſten Jahre eben ſo maͤchtig, anhaltend und eindringend, als nach ſeinem funfzigſten, obgleich die Einſichten und Arbei- ten ſich erſtaunlich vermehrt hatten. Sollte das Feuer der Dichtkraft in Klopſtock nicht wohl eben ſo ſtark gebrannt haben, zu der Zeit, da er ſeine Meſſia- de anfieng, als da er ſie endigte? Jn einer gewiſſen Hinſicht werden die beiden Arten des Zunehmens ein- ander gar hinderlich, wie die gemeine Erfahrung leh- ret. Schulwitz erſtickt oft den Mutterwitz, und eine allzuſtarke Aufhaͤufung der Jdeen im Gedaͤchniß, ſetzet den natuͤrlichen Verſtand mehr herunter, als ſie ihm auf hilft. Wie das zugehe? warum nicht jedwede der fol- genden Kraftaͤußerungen eben ſowohl eine Spur hinter- laſſe, wodurch die Leichtigkeit, ſo zu wirken, vergroͤſ- ſert wird, wie die erſtere, da ſie die Vorſtellungen von den Objekten vermehret? laͤßt ſich aus dem obi- gen erklaͤren. Die Spur, welche von einer Seelen- aͤußerung zuruͤckbleibet, kann immer zwar noch ein etwas ſeyn, ſo groß die Fertigkeit ſchon iſt, aber des- wegen doch etwas ſehr geringes, ein unbemerkbares, ein unendlichkleines. Wenn ſchon eine große Fertigkeit vorhanden iſt, ſo beſteht die Aeußerung derſelben mehr in einer paſſiven Reproduktion der Jdeenreihen, als in einer Anſtrengung der thaͤtigen Kraft ſelbſt. Daher kann fuͤr ſich der Zuwachs der Fertigkeit nicht groß ſeyn. Denn Unthaͤtigkeit ſchwaͤcht die erworbe- nen Fertigkeiten. Es kann alſo in einer Aktion ſo we- nig Selbſtthaͤtigkeit der Seele enthalten ſeyn, daß ſolches kaum hinreicht, um nur die vorige Groͤße zu erhalten. Uebrigens aber kann man auch nicht ſchlieſ- ſen, daß eine Kraft, die ſo viele und mannichfaltige re- II Theil. E e

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/463
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 433. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/463>, abgerufen am 22.11.2024.