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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
get der entfernte Keim, als der Anfang zu diesen
außer der Gränze, wohin wir durch Erfahrungen kom-
men können. Wohin aber Raisonnements und Muth-
maßungen uns bringen, davon ist vorher gesagt, wor-
auf ich zurück verweise. *) So viel ist indessen sehr
wahrscheinlich, daß die embryonische Entwickelung
vor der Geburt im Wesentlichen von der nach der Ge-
burt nicht unterschieden sey; wohl aber in Graden, und
besonders darinne, daß bey jener die Beywirkung der
äußern Ursachen noch mehr nothwendig sey, als bey
dieser. Jch werde gleich eine Frage berühren müssen,
die es veranlassen wird, dieß etwas näher zu betrach-
ten. Nur noch ein paar sonst bekannte Bemerkun-
gen, die ich ihrer genauen Verbindung mit dem Vor-
hergehenden wegen, wieder in Erinnerung brin-
gen will.

Die Vermögen der Seele erfodern auch körperliche
Kräfte, Stärke, Beugsamkeit, Geschmeidigkeit und
Spannkraft, und wie sie heißen, und welche sie seyn
mögen, in den Organen der Seele, sowohl in den in-
nern als äußern. Ohne diese können die Seelenkräfte
sich nicht äußern. Da nun auf den Körper körperli-
che Ursachen wirken, so hängt die Entwickelung der
Seelenfähigkeiten auch von diesen körperlichen Ursa-
chen mit ab. Die Erfahrungen sind bekannt, die
dieses bestätigen. Ein großer Versmacher in der er-
sten Hälfte dieses Jahrhunderts, denn Poet war er
nicht und eigentlich nur ein Reimer, erhielt die Reim-
und Versfähigkeit während eines Fiebers, das ihn zu
einem Poeten aus dem Stegreif machte. Ueber jede
Materie sprach er in Versen, sobald er sich in den nö-
thigen Enthusiasmus gesetzt hatte. Personen, die
ihm öfters zugehört, haben mich versichert, er habe

das
*) Jm eilften Versuch.

und Entwickelung des Menſchen.
get der entfernte Keim, als der Anfang zu dieſen
außer der Graͤnze, wohin wir durch Erfahrungen kom-
men koͤnnen. Wohin aber Raiſonnements und Muth-
maßungen uns bringen, davon iſt vorher geſagt, wor-
auf ich zuruͤck verweiſe. *) So viel iſt indeſſen ſehr
wahrſcheinlich, daß die embryoniſche Entwickelung
vor der Geburt im Weſentlichen von der nach der Ge-
burt nicht unterſchieden ſey; wohl aber in Graden, und
beſonders darinne, daß bey jener die Beywirkung der
aͤußern Urſachen noch mehr nothwendig ſey, als bey
dieſer. Jch werde gleich eine Frage beruͤhren muͤſſen,
die es veranlaſſen wird, dieß etwas naͤher zu betrach-
ten. Nur noch ein paar ſonſt bekannte Bemerkun-
gen, die ich ihrer genauen Verbindung mit dem Vor-
hergehenden wegen, wieder in Erinnerung brin-
gen will.

Die Vermoͤgen der Seele erfodern auch koͤrperliche
Kraͤfte, Staͤrke, Beugſamkeit, Geſchmeidigkeit und
Spannkraft, und wie ſie heißen, und welche ſie ſeyn
moͤgen, in den Organen der Seele, ſowohl in den in-
nern als aͤußern. Ohne dieſe koͤnnen die Seelenkraͤfte
ſich nicht aͤußern. Da nun auf den Koͤrper koͤrperli-
che Urſachen wirken, ſo haͤngt die Entwickelung der
Seelenfaͤhigkeiten auch von dieſen koͤrperlichen Urſa-
chen mit ab. Die Erfahrungen ſind bekannt, die
dieſes beſtaͤtigen. Ein großer Versmacher in der er-
ſten Haͤlfte dieſes Jahrhunderts, denn Poet war er
nicht und eigentlich nur ein Reimer, erhielt die Reim-
und Versfaͤhigkeit waͤhrend eines Fiebers, das ihn zu
einem Poeten aus dem Stegreif machte. Ueber jede
Materie ſprach er in Verſen, ſobald er ſich in den noͤ-
thigen Enthuſiasmus geſetzt hatte. Perſonen, die
ihm oͤfters zugehoͤrt, haben mich verſichert, er habe

das
*) Jm eilften Verſuch.
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[429/0459] und Entwickelung des Menſchen. get der entfernte Keim, als der Anfang zu dieſen außer der Graͤnze, wohin wir durch Erfahrungen kom- men koͤnnen. Wohin aber Raiſonnements und Muth- maßungen uns bringen, davon iſt vorher geſagt, wor- auf ich zuruͤck verweiſe. *) So viel iſt indeſſen ſehr wahrſcheinlich, daß die embryoniſche Entwickelung vor der Geburt im Weſentlichen von der nach der Ge- burt nicht unterſchieden ſey; wohl aber in Graden, und beſonders darinne, daß bey jener die Beywirkung der aͤußern Urſachen noch mehr nothwendig ſey, als bey dieſer. Jch werde gleich eine Frage beruͤhren muͤſſen, die es veranlaſſen wird, dieß etwas naͤher zu betrach- ten. Nur noch ein paar ſonſt bekannte Bemerkun- gen, die ich ihrer genauen Verbindung mit dem Vor- hergehenden wegen, wieder in Erinnerung brin- gen will. Die Vermoͤgen der Seele erfodern auch koͤrperliche Kraͤfte, Staͤrke, Beugſamkeit, Geſchmeidigkeit und Spannkraft, und wie ſie heißen, und welche ſie ſeyn moͤgen, in den Organen der Seele, ſowohl in den in- nern als aͤußern. Ohne dieſe koͤnnen die Seelenkraͤfte ſich nicht aͤußern. Da nun auf den Koͤrper koͤrperli- che Urſachen wirken, ſo haͤngt die Entwickelung der Seelenfaͤhigkeiten auch von dieſen koͤrperlichen Urſa- chen mit ab. Die Erfahrungen ſind bekannt, die dieſes beſtaͤtigen. Ein großer Versmacher in der er- ſten Haͤlfte dieſes Jahrhunderts, denn Poet war er nicht und eigentlich nur ein Reimer, erhielt die Reim- und Versfaͤhigkeit waͤhrend eines Fiebers, das ihn zu einem Poeten aus dem Stegreif machte. Ueber jede Materie ſprach er in Verſen, ſobald er ſich in den noͤ- thigen Enthuſiasmus geſetzt hatte. Perſonen, die ihm oͤfters zugehoͤrt, haben mich verſichert, er habe das *) Jm eilften Verſuch.

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/459>, abgerufen am 22.11.2024.