Hunger und Durst und Schmerzen des Körpers, die von dem Druck und der Bewegung der äußern Dinge, und von der Einrichtung des Mechanismus ab- hangen, sind die ersten Bedürfnisse der Natur. Die ersten thierischen Begierden gehen also auch alle dahin, diese abzuwenden. Die Jnstinkte in dem Körper so zu wirken, daß der Schmerz gestillet werde, machen die ersten thierischen Triebe zur Erhaltung und Gegenwehr aus, und aus diesen werden Begierden, wenn die Ge- genstände bekannt sind und die Vorstellungen von diesen sie leiten. Daher werden auch die Vermögen der See- le zu solchen Handlungen, welche auf die Stillung des Hungers und des Durstes gerichtet sind, die ersten Fer- tigkeiten in dem Willen und die ersten Leidenschaften.
Wenn der Körper bis zu einem gewissen Grad aus- gewachsen hat, so stellet sich ein neues Gefühl, eine neue Unruhe und ein neuer Trieb ein, oder gehet doch zum wenigsten alsdenn sichtbar hervor, nämlich der Trieb zur Fortpflanzung.
Jede Entwickelung des Gefühls ist mit einer Ent- wickelung der vorstellenden Kraft vergesellschaftet; und indem diese letztere mehr selbstthätig und frey wird, of- fenbaret sich auch die selbstthätige Zurückwirkung auf die von einander gesonderten Vorstellungen, das ist, die Gewahrnehmung der Verhältnisse als die Wir- kung der Denkkraft.
Das Kind, das seinen Hunger und Durst gestillet hat, und von keinen körperlichen Schmerzen beunruhi- get wird, verfällt wieder in Unthätigkeit und schläft ein, so lange weder seine Empfänglichkeit, noch seine Selbst- thätigkeit, merkliche Fortschritte gethan hat. Aber so- bald es an beiden reizbarer geworden ist, empfindet es auch die Eindrücke der feinern Sinne, besieht glänzen- de Körper, und horcht auf den Gesang der Vögel; und siehe da, es wird gewahr, daß auch in diesen Eindrü-
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und Entwickelung des Menſchen.
Hunger und Durſt und Schmerzen des Koͤrpers, die von dem Druck und der Bewegung der aͤußern Dinge, und von der Einrichtung des Mechanismus ab- hangen, ſind die erſten Beduͤrfniſſe der Natur. Die erſten thieriſchen Begierden gehen alſo auch alle dahin, dieſe abzuwenden. Die Jnſtinkte in dem Koͤrper ſo zu wirken, daß der Schmerz geſtillet werde, machen die erſten thieriſchen Triebe zur Erhaltung und Gegenwehr aus, und aus dieſen werden Begierden, wenn die Ge- genſtaͤnde bekannt ſind und die Vorſtellungen von dieſen ſie leiten. Daher werden auch die Vermoͤgen der See- le zu ſolchen Handlungen, welche auf die Stillung des Hungers und des Durſtes gerichtet ſind, die erſten Fer- tigkeiten in dem Willen und die erſten Leidenſchaften.
Wenn der Koͤrper bis zu einem gewiſſen Grad aus- gewachſen hat, ſo ſtellet ſich ein neues Gefuͤhl, eine neue Unruhe und ein neuer Trieb ein, oder gehet doch zum wenigſten alsdenn ſichtbar hervor, naͤmlich der Trieb zur Fortpflanzung.
Jede Entwickelung des Gefuͤhls iſt mit einer Ent- wickelung der vorſtellenden Kraft vergeſellſchaftet; und indem dieſe letztere mehr ſelbſtthaͤtig und frey wird, of- fenbaret ſich auch die ſelbſtthaͤtige Zuruͤckwirkung auf die von einander geſonderten Vorſtellungen, das iſt, die Gewahrnehmung der Verhaͤltniſſe als die Wir- kung der Denkkraft.
Das Kind, das ſeinen Hunger und Durſt geſtillet hat, und von keinen koͤrperlichen Schmerzen beunruhi- get wird, verfaͤllt wieder in Unthaͤtigkeit und ſchlaͤft ein, ſo lange weder ſeine Empfaͤnglichkeit, noch ſeine Selbſt- thaͤtigkeit, merkliche Fortſchritte gethan hat. Aber ſo- bald es an beiden reizbarer geworden iſt, empfindet es auch die Eindruͤcke der feinern Sinne, beſieht glaͤnzen- de Koͤrper, und horcht auf den Geſang der Voͤgel; und ſiehe da, es wird gewahr, daß auch in dieſen Eindruͤ-
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und Entwickelung des Menſchen.
Hunger und Durſt und Schmerzen des Koͤrpers,
die von dem Druck und der Bewegung der aͤußern
Dinge, und von der Einrichtung des Mechanismus ab-
hangen, ſind die erſten Beduͤrfniſſe der Natur. Die
erſten thieriſchen Begierden gehen alſo auch alle dahin,
dieſe abzuwenden. Die Jnſtinkte in dem Koͤrper ſo zu
wirken, daß der Schmerz geſtillet werde, machen die
erſten thieriſchen Triebe zur Erhaltung und Gegenwehr
aus, und aus dieſen werden Begierden, wenn die Ge-
genſtaͤnde bekannt ſind und die Vorſtellungen von dieſen
ſie leiten. Daher werden auch die Vermoͤgen der See-
le zu ſolchen Handlungen, welche auf die Stillung des
Hungers und des Durſtes gerichtet ſind, die erſten Fer-
tigkeiten in dem Willen und die erſten Leidenſchaften.
Wenn der Koͤrper bis zu einem gewiſſen Grad aus-
gewachſen hat, ſo ſtellet ſich ein neues Gefuͤhl, eine neue
Unruhe und ein neuer Trieb ein, oder gehet doch zum
wenigſten alsdenn ſichtbar hervor, naͤmlich der Trieb
zur Fortpflanzung.
Jede Entwickelung des Gefuͤhls iſt mit einer Ent-
wickelung der vorſtellenden Kraft vergeſellſchaftet; und
indem dieſe letztere mehr ſelbſtthaͤtig und frey wird, of-
fenbaret ſich auch die ſelbſtthaͤtige Zuruͤckwirkung auf
die von einander geſonderten Vorſtellungen, das iſt,
die Gewahrnehmung der Verhaͤltniſſe als die Wir-
kung der Denkkraft.
Das Kind, das ſeinen Hunger und Durſt geſtillet
hat, und von keinen koͤrperlichen Schmerzen beunruhi-
get wird, verfaͤllt wieder in Unthaͤtigkeit und ſchlaͤft ein,
ſo lange weder ſeine Empfaͤnglichkeit, noch ſeine Selbſt-
thaͤtigkeit, merkliche Fortſchritte gethan hat. Aber ſo-
bald es an beiden reizbarer geworden iſt, empfindet es
auch die Eindruͤcke der feinern Sinne, beſieht glaͤnzen-
de Koͤrper, und horcht auf den Geſang der Voͤgel; und
ſiehe da, es wird gewahr, daß auch in dieſen Eindruͤ-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 423. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/453>, abgerufen am 22.11.2024.
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