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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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und Entwickelung des Menschen.
gearbeitet, sondern die Denkkraft nimmt nur die Folge-
rungen mit ihren Grundsätzen zusammen, findet jene
von diesen abhängig, und darinn bestehet ihre Einsicht;
aber sie folgert selbst nicht, sie macht selbst keine Ver-
knüpfung, geht nicht mit ihrer Eigenmacht von dem
Grundsatz zum Folgesatz fort, wie der Mann thun muß-
te, der die Demonstration zuerst erfinden sollte. Es
ist nur ein Nachfolgen, nicht ursprüngliches Selbstden-
ken; und der Erfolg davon ist alsdenn auch, daß die
Demonstration zum Theil nur wie eine Geschichte im
Gedächtniß verwahret wird. Ohne Zweifel ist doch die
Jntension des Verstandes, womit der Erfinder die De-
monstration gedacht hat, ungleich stärker gewesen, als
sie in dem Aktus ist, womit ein anderer sie ihm nur
nachdenket. Und dennoch ist die letztere Arbeit kein blos-
ses Nachbeten; denn es ist eigene Forschung, und eigene
Einsicht, was auf solche Art erlanget wird; aber es ist
so zu sagen nicht so tief eingehende Einsicht.

Es giebt auch unter den nachdenkenden Philosophen
und Mathematikern eine gewisse Gattung, die man eben
so wenig ohne Ungerechtigkeit für Nachbeter ansehen,
als ihnen die Ehre selbstdenkender originellen Köpfe ein-
räumen kann. Sie sind gewissermaßen Mitteldinge
zwischen beiden. Man wird oft bemerken, daß die letz-
tern, wenn es darauf ankommt die Gedanken anderer
zu fassen und von andern zu lernen, dem Scheine nach
einen Vorzug vor den stärksten Selbstdenkern haben.
Denn es ist aus der Richtung, die ihre Kraft zu neh-
men pflegt, zu begreifen, daß sie die richtigen Gedan-
ken anderer, die ihnen vorgehen, schneller und leichter
durchsehen und fassen, und sie wirklich auch einsehen,
und sich von ihrer Richtigkeit überzeugen können, als
ein anderer, der gewohnt ist mehr selbst zu denken. Der
letztere wird auch da, wo er einem Vorgänger folget,
doch wenigstens die ganze Aktion des Denkens ihm nach-

machen

und Entwickelung des Menſchen.
gearbeitet, ſondern die Denkkraft nimmt nur die Folge-
rungen mit ihren Grundſaͤtzen zuſammen, findet jene
von dieſen abhaͤngig, und darinn beſtehet ihre Einſicht;
aber ſie folgert ſelbſt nicht, ſie macht ſelbſt keine Ver-
knuͤpfung, geht nicht mit ihrer Eigenmacht von dem
Grundſatz zum Folgeſatz fort, wie der Mann thun muß-
te, der die Demonſtration zuerſt erfinden ſollte. Es
iſt nur ein Nachfolgen, nicht urſpruͤngliches Selbſtden-
ken; und der Erfolg davon iſt alsdenn auch, daß die
Demonſtration zum Theil nur wie eine Geſchichte im
Gedaͤchtniß verwahret wird. Ohne Zweifel iſt doch die
Jntenſion des Verſtandes, womit der Erfinder die De-
monſtration gedacht hat, ungleich ſtaͤrker geweſen, als
ſie in dem Aktus iſt, womit ein anderer ſie ihm nur
nachdenket. Und dennoch iſt die letztere Arbeit kein bloſ-
ſes Nachbeten; denn es iſt eigene Forſchung, und eigene
Einſicht, was auf ſolche Art erlanget wird; aber es iſt
ſo zu ſagen nicht ſo tief eingehende Einſicht.

Es giebt auch unter den nachdenkenden Philoſophen
und Mathematikern eine gewiſſe Gattung, die man eben
ſo wenig ohne Ungerechtigkeit fuͤr Nachbeter anſehen,
als ihnen die Ehre ſelbſtdenkender originellen Koͤpfe ein-
raͤumen kann. Sie ſind gewiſſermaßen Mitteldinge
zwiſchen beiden. Man wird oft bemerken, daß die letz-
tern, wenn es darauf ankommt die Gedanken anderer
zu faſſen und von andern zu lernen, dem Scheine nach
einen Vorzug vor den ſtaͤrkſten Selbſtdenkern haben.
Denn es iſt aus der Richtung, die ihre Kraft zu neh-
men pflegt, zu begreifen, daß ſie die richtigen Gedan-
ken anderer, die ihnen vorgehen, ſchneller und leichter
durchſehen und faſſen, und ſie wirklich auch einſehen,
und ſich von ihrer Richtigkeit uͤberzeugen koͤnnen, als
ein anderer, der gewohnt iſt mehr ſelbſt zu denken. Der
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doch wenigſtens die ganze Aktion des Denkens ihm nach-

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[397/0427] und Entwickelung des Menſchen. gearbeitet, ſondern die Denkkraft nimmt nur die Folge- rungen mit ihren Grundſaͤtzen zuſammen, findet jene von dieſen abhaͤngig, und darinn beſtehet ihre Einſicht; aber ſie folgert ſelbſt nicht, ſie macht ſelbſt keine Ver- knuͤpfung, geht nicht mit ihrer Eigenmacht von dem Grundſatz zum Folgeſatz fort, wie der Mann thun muß- te, der die Demonſtration zuerſt erfinden ſollte. Es iſt nur ein Nachfolgen, nicht urſpruͤngliches Selbſtden- ken; und der Erfolg davon iſt alsdenn auch, daß die Demonſtration zum Theil nur wie eine Geſchichte im Gedaͤchtniß verwahret wird. Ohne Zweifel iſt doch die Jntenſion des Verſtandes, womit der Erfinder die De- monſtration gedacht hat, ungleich ſtaͤrker geweſen, als ſie in dem Aktus iſt, womit ein anderer ſie ihm nur nachdenket. Und dennoch iſt die letztere Arbeit kein bloſ- ſes Nachbeten; denn es iſt eigene Forſchung, und eigene Einſicht, was auf ſolche Art erlanget wird; aber es iſt ſo zu ſagen nicht ſo tief eingehende Einſicht. Es giebt auch unter den nachdenkenden Philoſophen und Mathematikern eine gewiſſe Gattung, die man eben ſo wenig ohne Ungerechtigkeit fuͤr Nachbeter anſehen, als ihnen die Ehre ſelbſtdenkender originellen Koͤpfe ein- raͤumen kann. Sie ſind gewiſſermaßen Mitteldinge zwiſchen beiden. Man wird oft bemerken, daß die letz- tern, wenn es darauf ankommt die Gedanken anderer zu faſſen und von andern zu lernen, dem Scheine nach einen Vorzug vor den ſtaͤrkſten Selbſtdenkern haben. Denn es iſt aus der Richtung, die ihre Kraft zu neh- men pflegt, zu begreifen, daß ſie die richtigen Gedan- ken anderer, die ihnen vorgehen, ſchneller und leichter durchſehen und faſſen, und ſie wirklich auch einſehen, und ſich von ihrer Richtigkeit uͤberzeugen koͤnnen, als ein anderer, der gewohnt iſt mehr ſelbſt zu denken. Der letztere wird auch da, wo er einem Vorgaͤnger folget, doch wenigſtens die ganze Aktion des Denkens ihm nach- machen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 397. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/427>, abgerufen am 22.11.2024.