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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
die Geometrie zu studiren, um sich mit ihren Lehrsätzen
bekannt zu machen; etwas anders, sie zu studiren, um
aus ihr eine anschauliche Vorstellung von dem Gange
des menschlichen Verstandes in dieser Wissenschaft zu
bekommen; und endlich ganz ein anders, sie so zu trei-
ben, daß Verstand und Vernunft durch sie geschärfet
werden. Bey der Jugend, meine ich, sollte man we-
der das Erste noch das Zweyte, sondern das Letzte die
Hauptabsicht seyn lassen. Diese Vorschiedenheit in den
Wirkungen hängt von der Art und Weise ab, wie die
Verstandeskraft wirket, und von der Verschiedenheit
der Richtungen, die sie nimmt; aber diese wiederum
von dem Zwecke, den man sich vorgesetzt hat, und auf
den man während der Aktion am meisten hinsieht.

Das Letztere verdient eine nähere Erläuterung.
Wenn mir eine Demonstration vorgelegt wird, und es
ist mir nur allein um das letzte Resultat zu thun: so
mag ich noch immer die Folge der Sätze und ihren Zu-
sammenhang durchgehen, allein ich richte die ganze Auf-
merksamkeit auf den letztern Satz, bemühe mich diesen
zu fassen und ihn so zu merken, daß ich mich leicht wie-
der auf ihn besinnen könne. Die Vernunft, als das
Vermögen den Zusammenhang einzusehen, hat wenig
und mit geringer Jntension gearbeitet. Daher ist auch
nur eine schwache Spur von ihrer Wirksamkeit zurück-
geblieben, und der Zuwachs am Vermögen entweder
gar nichts, oder doch von geringer Erheblichkeit.

Wenn es aber die Absicht ist, die Demonstration
selbst zu fassen, nicht bloß ihren Schlußsatz: so kann
doch wiederum der größte Theil der Arbeit dahin gehen,
daß ich die aufeinander folgenden Sätze in ihrer Ord-
nung fasse und bemerke, und sie dann wie eine Jdeen-
reihe der Phantasie einpräge. Allein man ist alsdann
wiederum nicht sehr stark mit der Denkkraft wirksam.
Die Sätze werden nicht, einer nach dem andern heraus-

gearbei-

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
die Geometrie zu ſtudiren, um ſich mit ihren Lehrſaͤtzen
bekannt zu machen; etwas anders, ſie zu ſtudiren, um
aus ihr eine anſchauliche Vorſtellung von dem Gange
des menſchlichen Verſtandes in dieſer Wiſſenſchaft zu
bekommen; und endlich ganz ein anders, ſie ſo zu trei-
ben, daß Verſtand und Vernunft durch ſie geſchaͤrfet
werden. Bey der Jugend, meine ich, ſollte man we-
der das Erſte noch das Zweyte, ſondern das Letzte die
Hauptabſicht ſeyn laſſen. Dieſe Vorſchiedenheit in den
Wirkungen haͤngt von der Art und Weiſe ab, wie die
Verſtandeskraft wirket, und von der Verſchiedenheit
der Richtungen, die ſie nimmt; aber dieſe wiederum
von dem Zwecke, den man ſich vorgeſetzt hat, und auf
den man waͤhrend der Aktion am meiſten hinſieht.

Das Letztere verdient eine naͤhere Erlaͤuterung.
Wenn mir eine Demonſtration vorgelegt wird, und es
iſt mir nur allein um das letzte Reſultat zu thun: ſo
mag ich noch immer die Folge der Saͤtze und ihren Zu-
ſammenhang durchgehen, allein ich richte die ganze Auf-
merkſamkeit auf den letztern Satz, bemuͤhe mich dieſen
zu faſſen und ihn ſo zu merken, daß ich mich leicht wie-
der auf ihn beſinnen koͤnne. Die Vernunft, als das
Vermoͤgen den Zuſammenhang einzuſehen, hat wenig
und mit geringer Jntenſion gearbeitet. Daher iſt auch
nur eine ſchwache Spur von ihrer Wirkſamkeit zuruͤck-
geblieben, und der Zuwachs am Vermoͤgen entweder
gar nichts, oder doch von geringer Erheblichkeit.

Wenn es aber die Abſicht iſt, die Demonſtration
ſelbſt zu faſſen, nicht bloß ihren Schlußſatz: ſo kann
doch wiederum der groͤßte Theil der Arbeit dahin gehen,
daß ich die aufeinander folgenden Saͤtze in ihrer Ord-
nung faſſe und bemerke, und ſie dann wie eine Jdeen-
reihe der Phantaſie einpraͤge. Allein man iſt alsdann
wiederum nicht ſehr ſtark mit der Denkkraft wirkſam.
Die Saͤtze werden nicht, einer nach dem andern heraus-

gearbei-
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[396/0426] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt die Geometrie zu ſtudiren, um ſich mit ihren Lehrſaͤtzen bekannt zu machen; etwas anders, ſie zu ſtudiren, um aus ihr eine anſchauliche Vorſtellung von dem Gange des menſchlichen Verſtandes in dieſer Wiſſenſchaft zu bekommen; und endlich ganz ein anders, ſie ſo zu trei- ben, daß Verſtand und Vernunft durch ſie geſchaͤrfet werden. Bey der Jugend, meine ich, ſollte man we- der das Erſte noch das Zweyte, ſondern das Letzte die Hauptabſicht ſeyn laſſen. Dieſe Vorſchiedenheit in den Wirkungen haͤngt von der Art und Weiſe ab, wie die Verſtandeskraft wirket, und von der Verſchiedenheit der Richtungen, die ſie nimmt; aber dieſe wiederum von dem Zwecke, den man ſich vorgeſetzt hat, und auf den man waͤhrend der Aktion am meiſten hinſieht. Das Letztere verdient eine naͤhere Erlaͤuterung. Wenn mir eine Demonſtration vorgelegt wird, und es iſt mir nur allein um das letzte Reſultat zu thun: ſo mag ich noch immer die Folge der Saͤtze und ihren Zu- ſammenhang durchgehen, allein ich richte die ganze Auf- merkſamkeit auf den letztern Satz, bemuͤhe mich dieſen zu faſſen und ihn ſo zu merken, daß ich mich leicht wie- der auf ihn beſinnen koͤnne. Die Vernunft, als das Vermoͤgen den Zuſammenhang einzuſehen, hat wenig und mit geringer Jntenſion gearbeitet. Daher iſt auch nur eine ſchwache Spur von ihrer Wirkſamkeit zuruͤck- geblieben, und der Zuwachs am Vermoͤgen entweder gar nichts, oder doch von geringer Erheblichkeit. Wenn es aber die Abſicht iſt, die Demonſtration ſelbſt zu faſſen, nicht bloß ihren Schlußſatz: ſo kann doch wiederum der groͤßte Theil der Arbeit dahin gehen, daß ich die aufeinander folgenden Saͤtze in ihrer Ord- nung faſſe und bemerke, und ſie dann wie eine Jdeen- reihe der Phantaſie einpraͤge. Allein man iſt alsdann wiederum nicht ſehr ſtark mit der Denkkraft wirkſam. Die Saͤtze werden nicht, einer nach dem andern heraus- gearbei-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 396. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/426>, abgerufen am 22.11.2024.