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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
ten, der das Einzelne zu umfassen weiß, noch die feste
Stirn desselben. Dagegen steht der letztere dem Phi-
losophen nach an der feinern Scharfsinnigkeit wie dem
Geometer an eindringender Schlußkraft, und dem Dich-
ter an Phantasie und Witz. Alle diese Handlungen
und Fertigkeiten sind doch Wirkungen derselbigen
Grundkraft der Seele, und beruhen, die eine wie die
andere, auf einer innern Größe dieser Kraft, welche in
allen wirksam ist. Wie kann denn die eine Fertigkeit
fehlen, wo die andere vorhanden ist, wenn nicht diese
Verschiedenheit anderswo ihre Ursache hat? Der
Schlüssel zu diesen Erscheinungen, möchte Hr. Search
sagen, liegt darinnen: die verschiedenen Fertigkeiten
bestehen in den verschiedenen Jdeenreihen, welche hin-
zukommen und so viele verschiedene Werkzeuge der
Grundkraft ausmachen, deren sie sich bedienen kann.
Jndem sie sich diese verschafft und zubereitet, erlangt
sie ihre Fertigkeiten zu gewissen Handlungen, die nach
der Verschiedenheit der Jnstrumente verschieden sind.

Diese Erklärung bekommt einen noch größern
Schein, wenn man siehet, wie weit man wirklich mit
ihr ausreichet, um die Entstehung der Fertigkeiten zu
erklären. Es muß nothwendig, wenn nicht alles, doch
sehr vieles von den Jdeenreihen abhängen, die, wie
mehrmalen schon bemerket worden ist, in der Seele das
nämliche sind, was die Nerven und Muskeln in dem
Körper. Wer sich mit einer Art von Geschäfften oder
mit einer Wissenschaft bekannt macht, dessen Bestreben
geht dahin, die Begriffe von den Sachen zu fassen,
und diese Begriffe nach ihren Verhältnissen und Bezie-
hungen auf einander zu verbinden und aneinander zu rei-
hen. Wächset nun die Fertigkeit eine Reihe von Ge-
danken und Schlüssen zu übersehen, und geht also diese
Verrichtung leichter und schneller vonstatten: so sind
es die erworbenen Jdeenreihen, welche sich leicht und

schnell

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
ten, der das Einzelne zu umfaſſen weiß, noch die feſte
Stirn deſſelben. Dagegen ſteht der letztere dem Phi-
loſophen nach an der feinern Scharfſinnigkeit wie dem
Geometer an eindringender Schlußkraft, und dem Dich-
ter an Phantaſie und Witz. Alle dieſe Handlungen
und Fertigkeiten ſind doch Wirkungen derſelbigen
Grundkraft der Seele, und beruhen, die eine wie die
andere, auf einer innern Groͤße dieſer Kraft, welche in
allen wirkſam iſt. Wie kann denn die eine Fertigkeit
fehlen, wo die andere vorhanden iſt, wenn nicht dieſe
Verſchiedenheit anderswo ihre Urſache hat? Der
Schluͤſſel zu dieſen Erſcheinungen, moͤchte Hr. Search
ſagen, liegt darinnen: die verſchiedenen Fertigkeiten
beſtehen in den verſchiedenen Jdeenreihen, welche hin-
zukommen und ſo viele verſchiedene Werkzeuge der
Grundkraft ausmachen, deren ſie ſich bedienen kann.
Jndem ſie ſich dieſe verſchafft und zubereitet, erlangt
ſie ihre Fertigkeiten zu gewiſſen Handlungen, die nach
der Verſchiedenheit der Jnſtrumente verſchieden ſind.

Dieſe Erklaͤrung bekommt einen noch groͤßern
Schein, wenn man ſiehet, wie weit man wirklich mit
ihr ausreichet, um die Entſtehung der Fertigkeiten zu
erklaͤren. Es muß nothwendig, wenn nicht alles, doch
ſehr vieles von den Jdeenreihen abhaͤngen, die, wie
mehrmalen ſchon bemerket worden iſt, in der Seele das
naͤmliche ſind, was die Nerven und Muskeln in dem
Koͤrper. Wer ſich mit einer Art von Geſchaͤfften oder
mit einer Wiſſenſchaft bekannt macht, deſſen Beſtreben
geht dahin, die Begriffe von den Sachen zu faſſen,
und dieſe Begriffe nach ihren Verhaͤltniſſen und Bezie-
hungen auf einander zu verbinden und aneinander zu rei-
hen. Waͤchſet nun die Fertigkeit eine Reihe von Ge-
danken und Schluͤſſen zu uͤberſehen, und geht alſo dieſe
Verrichtung leichter und ſchneller vonſtatten: ſo ſind
es die erworbenen Jdeenreihen, welche ſich leicht und

ſchnell
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[384/0414] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt ten, der das Einzelne zu umfaſſen weiß, noch die feſte Stirn deſſelben. Dagegen ſteht der letztere dem Phi- loſophen nach an der feinern Scharfſinnigkeit wie dem Geometer an eindringender Schlußkraft, und dem Dich- ter an Phantaſie und Witz. Alle dieſe Handlungen und Fertigkeiten ſind doch Wirkungen derſelbigen Grundkraft der Seele, und beruhen, die eine wie die andere, auf einer innern Groͤße dieſer Kraft, welche in allen wirkſam iſt. Wie kann denn die eine Fertigkeit fehlen, wo die andere vorhanden iſt, wenn nicht dieſe Verſchiedenheit anderswo ihre Urſache hat? Der Schluͤſſel zu dieſen Erſcheinungen, moͤchte Hr. Search ſagen, liegt darinnen: die verſchiedenen Fertigkeiten beſtehen in den verſchiedenen Jdeenreihen, welche hin- zukommen und ſo viele verſchiedene Werkzeuge der Grundkraft ausmachen, deren ſie ſich bedienen kann. Jndem ſie ſich dieſe verſchafft und zubereitet, erlangt ſie ihre Fertigkeiten zu gewiſſen Handlungen, die nach der Verſchiedenheit der Jnſtrumente verſchieden ſind. Dieſe Erklaͤrung bekommt einen noch groͤßern Schein, wenn man ſiehet, wie weit man wirklich mit ihr ausreichet, um die Entſtehung der Fertigkeiten zu erklaͤren. Es muß nothwendig, wenn nicht alles, doch ſehr vieles von den Jdeenreihen abhaͤngen, die, wie mehrmalen ſchon bemerket worden iſt, in der Seele das naͤmliche ſind, was die Nerven und Muskeln in dem Koͤrper. Wer ſich mit einer Art von Geſchaͤfften oder mit einer Wiſſenſchaft bekannt macht, deſſen Beſtreben geht dahin, die Begriffe von den Sachen zu faſſen, und dieſe Begriffe nach ihren Verhaͤltniſſen und Bezie- hungen auf einander zu verbinden und aneinander zu rei- hen. Waͤchſet nun die Fertigkeit eine Reihe von Ge- danken und Schluͤſſen zu uͤberſehen, und geht alſo dieſe Verrichtung leichter und ſchneller vonſtatten: ſo ſind es die erworbenen Jdeenreihen, welche ſich leicht und ſchnell

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 384. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/414>, abgerufen am 22.11.2024.