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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIV. Vers. Ueber die Perfektibilität
war, auf eine Zeitlang, zuweilen auf immer, herunter.
Allzugroßer Fleiß ist, sogar für ein Genie, erstickend.
Dieß Maaß der angemessenen Uebung ist, wie sichs von
selbst versteht, nicht eben dasselbige für Alle, und muß
bey jedem Jndividuum nach dem Selbstgefühl bestim-
met werden.

Es sind ferner bekannte Erfahrungen, daß ein Ver-
mögen zu einer gewissen Art von Handlungen unge-
mein stark und mächtig gemacht seyn kann, ob es gleich
zu einer andern schwach und ungestärkt geblieben ist.
Und dieß finden wir sogar in solchen Fällen, wo die
Thätigkeiten, in denen das Vermögen sich äußern soll,
einander ähnlich und nahe verwandt sind; und noch
mehr auch da, wo die Art der Thätigkeit, und die
Form der Handlungen, gänzlich oder doch beynahe die-
selbigen sind, und ihr Unterschied allein in den Objekten
liegt, womit die Kraft sich beschäftiget, oder welches
hier gleichviel ist, in den Jdeen von diesen Objekten.
Wenn Newton in der Philosophie nicht so tief noch so
scharf raisonnirte, als in der Mathematik; wenn über-
haupt ein mathematisches und philosophisches Genie in
einem Kopf nicht gut vertragbar sind, obgleich Ver-
stand und Vernunft dieselbigen Seelenfähigkeiten sind,
die in beiden arbeiten; (eine Bemerkung die jedoch nur
gewissermaßen richtig ist;) wenn Klopstocks Stärke in
der erhabenen Dichkunst ihm keine gleiche Stärke in den
Arbeiten des spielenden und belustigenden Witzes giebt,
obgleich Phantasie und Dichtkraft die wirkende Ursache
in beiden ist, und so ferner: so sind wir mit solchen Ver-
schiedenheiten zu bekannt, als daß sie uns befremden.
Aber wenn wir sehen, daß jemand eine große Fertigkeit
in einer Art von Handlungen bey gewissen Gegenstän-
den besitzet, und dennoch bey andern von neuem lernen
und nur nach und nach sich die Fertigkeiten erwerben
muß|; ohnerachtet das, was er bey den letztern Sachen

zu

XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt
war, auf eine Zeitlang, zuweilen auf immer, herunter.
Allzugroßer Fleiß iſt, ſogar fuͤr ein Genie, erſtickend.
Dieß Maaß der angemeſſenen Uebung iſt, wie ſichs von
ſelbſt verſteht, nicht eben daſſelbige fuͤr Alle, und muß
bey jedem Jndividuum nach dem Selbſtgefuͤhl beſtim-
met werden.

Es ſind ferner bekannte Erfahrungen, daß ein Ver-
moͤgen zu einer gewiſſen Art von Handlungen unge-
mein ſtark und maͤchtig gemacht ſeyn kann, ob es gleich
zu einer andern ſchwach und ungeſtaͤrkt geblieben iſt.
Und dieß finden wir ſogar in ſolchen Faͤllen, wo die
Thaͤtigkeiten, in denen das Vermoͤgen ſich aͤußern ſoll,
einander aͤhnlich und nahe verwandt ſind; und noch
mehr auch da, wo die Art der Thaͤtigkeit, und die
Form der Handlungen, gaͤnzlich oder doch beynahe die-
ſelbigen ſind, und ihr Unterſchied allein in den Objekten
liegt, womit die Kraft ſich beſchaͤftiget, oder welches
hier gleichviel iſt, in den Jdeen von dieſen Objekten.
Wenn Newton in der Philoſophie nicht ſo tief noch ſo
ſcharf raiſonnirte, als in der Mathematik; wenn uͤber-
haupt ein mathematiſches und philoſophiſches Genie in
einem Kopf nicht gut vertragbar ſind, obgleich Ver-
ſtand und Vernunft dieſelbigen Seelenfaͤhigkeiten ſind,
die in beiden arbeiten; (eine Bemerkung die jedoch nur
gewiſſermaßen richtig iſt;) wenn Klopſtocks Staͤrke in
der erhabenen Dichkunſt ihm keine gleiche Staͤrke in den
Arbeiten des ſpielenden und beluſtigenden Witzes giebt,
obgleich Phantaſie und Dichtkraft die wirkende Urſache
in beiden iſt, und ſo ferner: ſo ſind wir mit ſolchen Ver-
ſchiedenheiten zu bekannt, als daß ſie uns befremden.
Aber wenn wir ſehen, daß jemand eine große Fertigkeit
in einer Art von Handlungen bey gewiſſen Gegenſtaͤn-
den beſitzet, und dennoch bey andern von neuem lernen
und nur nach und nach ſich die Fertigkeiten erwerben
muß|; ohnerachtet das, was er bey den letztern Sachen

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[382/0412] XIV. Verſ. Ueber die Perfektibilitaͤt war, auf eine Zeitlang, zuweilen auf immer, herunter. Allzugroßer Fleiß iſt, ſogar fuͤr ein Genie, erſtickend. Dieß Maaß der angemeſſenen Uebung iſt, wie ſichs von ſelbſt verſteht, nicht eben daſſelbige fuͤr Alle, und muß bey jedem Jndividuum nach dem Selbſtgefuͤhl beſtim- met werden. Es ſind ferner bekannte Erfahrungen, daß ein Ver- moͤgen zu einer gewiſſen Art von Handlungen unge- mein ſtark und maͤchtig gemacht ſeyn kann, ob es gleich zu einer andern ſchwach und ungeſtaͤrkt geblieben iſt. Und dieß finden wir ſogar in ſolchen Faͤllen, wo die Thaͤtigkeiten, in denen das Vermoͤgen ſich aͤußern ſoll, einander aͤhnlich und nahe verwandt ſind; und noch mehr auch da, wo die Art der Thaͤtigkeit, und die Form der Handlungen, gaͤnzlich oder doch beynahe die- ſelbigen ſind, und ihr Unterſchied allein in den Objekten liegt, womit die Kraft ſich beſchaͤftiget, oder welches hier gleichviel iſt, in den Jdeen von dieſen Objekten. Wenn Newton in der Philoſophie nicht ſo tief noch ſo ſcharf raiſonnirte, als in der Mathematik; wenn uͤber- haupt ein mathematiſches und philoſophiſches Genie in einem Kopf nicht gut vertragbar ſind, obgleich Ver- ſtand und Vernunft dieſelbigen Seelenfaͤhigkeiten ſind, die in beiden arbeiten; (eine Bemerkung die jedoch nur gewiſſermaßen richtig iſt;) wenn Klopſtocks Staͤrke in der erhabenen Dichkunſt ihm keine gleiche Staͤrke in den Arbeiten des ſpielenden und beluſtigenden Witzes giebt, obgleich Phantaſie und Dichtkraft die wirkende Urſache in beiden iſt, und ſo ferner: ſo ſind wir mit ſolchen Ver- ſchiedenheiten zu bekannt, als daß ſie uns befremden. Aber wenn wir ſehen, daß jemand eine große Fertigkeit in einer Art von Handlungen bey gewiſſen Gegenſtaͤn- den beſitzet, und dennoch bey andern von neuem lernen und nur nach und nach ſich die Fertigkeiten erwerben muß|; ohnerachtet das, was er bey den letztern Sachen zu

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 382. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/412>, abgerufen am 22.11.2024.