Thieren, wo das Gehirn der Sitz des thierischen Princips ist. Bey den Pflanzen ist solches mehr durch die ganze Masse des organischen Körpers verthei- let; und da können wir auch keine Seele antreffen, wo- fern wir nicht mehrere Seelen durch den ganzen Körper zerstreut annehmen und jedem Zweige für sich die seinige beylegen wollten. So stellen wir uns wenigstens die Sache nach unsern Erfahrungsbegriffen vor.
Müssen wir nun auch auf dieselbige Art über einige Thierarten raisonniren? Hr. D. Unzer hält es für wahrscheinlich, daß es sich bey vielen von ihnen, die zu den Jnsekten und Gewürmen gehören, bey den Polypen und Zoophyten eben so verhalte, und daß diese weiter nichts als organisirte Wesen ohne Seele sind. Der scharfsinnige Mann meinet, es sey dieß desto wahrscheinli- cher, je deutlicher es aus seinen Betrachtungen über die thierische Natur erhelle, wie alle Handlungen, die von den erwähnten unvollkommenen Thieren verrichtet wer- den, durch die bloße Organisation des Körpers erfolgen können, ohne daß es einer vorstellenden und wollenden Seele dazu bedürfe. Wenn die Frage von der Mög- lichkeit ist, so habe ich oft bezeugt, daß solche nicht ge- läugnet werden kann; aber wenn man auf die übrige Analogie der Natur Rücksicht nimmt: so deucht mich, es sey in dieser Hypothese der Punkt der Seelenlosig- keit in der Stufenlinie der organisirten Wesen etwas zu hoch hinaufgesetzt. Wesen, in denen entweder ein eigentliches Gehirn ist, oder wo gewisse Theile vorhan- den sind, die dessen Stelle vertreten, sollten doch auch noch als solche angesehen werden, denen man eine See- le, oder ein Seelenwesen zuschreiben müßte. Denn in diesem Fall sind sie noch organische Einheiten, die ir- gendwo Einen Mittelpunkt der von außen auffallenden Eindrücke, und der von innen herausgehenden Thätig- keiten in sich haben. Und dieß scheinet noch bey den Poly-
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Thieren, wo das Gehirn der Sitz des thieriſchen Princips iſt. Bey den Pflanzen iſt ſolches mehr durch die ganze Maſſe des organiſchen Koͤrpers verthei- let; und da koͤnnen wir auch keine Seele antreffen, wo- fern wir nicht mehrere Seelen durch den ganzen Koͤrper zerſtreut annehmen und jedem Zweige fuͤr ſich die ſeinige beylegen wollten. So ſtellen wir uns wenigſtens die Sache nach unſern Erfahrungsbegriffen vor.
Muͤſſen wir nun auch auf dieſelbige Art uͤber einige Thierarten raiſonniren? Hr. D. Unzer haͤlt es fuͤr wahrſcheinlich, daß es ſich bey vielen von ihnen, die zu den Jnſekten und Gewuͤrmen gehoͤren, bey den Polypen und Zoophyten eben ſo verhalte, und daß dieſe weiter nichts als organiſirte Weſen ohne Seele ſind. Der ſcharfſinnige Mann meinet, es ſey dieß deſto wahrſcheinli- cher, je deutlicher es aus ſeinen Betrachtungen uͤber die thieriſche Natur erhelle, wie alle Handlungen, die von den erwaͤhnten unvollkommenen Thieren verrichtet wer- den, durch die bloße Organiſation des Koͤrpers erfolgen koͤnnen, ohne daß es einer vorſtellenden und wollenden Seele dazu beduͤrfe. Wenn die Frage von der Moͤg- lichkeit iſt, ſo habe ich oft bezeugt, daß ſolche nicht ge- laͤugnet werden kann; aber wenn man auf die uͤbrige Analogie der Natur Ruͤckſicht nimmt: ſo deucht mich, es ſey in dieſer Hypotheſe der Punkt der Seelenloſig- keit in der Stufenlinie der organiſirten Weſen etwas zu hoch hinaufgeſetzt. Weſen, in denen entweder ein eigentliches Gehirn iſt, oder wo gewiſſe Theile vorhan- den ſind, die deſſen Stelle vertreten, ſollten doch auch noch als ſolche angeſehen werden, denen man eine See- le, oder ein Seelenweſen zuſchreiben muͤßte. Denn in dieſem Fall ſind ſie noch organiſche Einheiten, die ir- gendwo Einen Mittelpunkt der von außen auffallenden Eindruͤcke, und der von innen herausgehenden Thaͤtig- keiten in ſich haben. Und dieß ſcheinet noch bey den Poly-
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Thieren, wo das Gehirn der Sitz des thieriſchen
Princips iſt. Bey den Pflanzen iſt ſolches mehr
durch die ganze Maſſe des organiſchen Koͤrpers verthei-
let; und da koͤnnen wir auch keine Seele antreffen, wo-
fern wir nicht mehrere Seelen durch den ganzen Koͤrper
zerſtreut annehmen und jedem Zweige fuͤr ſich die ſeinige
beylegen wollten. So ſtellen wir uns wenigſtens die
Sache nach unſern Erfahrungsbegriffen vor.
Muͤſſen wir nun auch auf dieſelbige Art uͤber einige
Thierarten raiſonniren? Hr. D. Unzer haͤlt es fuͤr
wahrſcheinlich, daß es ſich bey vielen von ihnen, die zu
den Jnſekten und Gewuͤrmen gehoͤren, bey den Polypen
und Zoophyten eben ſo verhalte, und daß dieſe weiter
nichts als organiſirte Weſen ohne Seele ſind. Der
ſcharfſinnige Mann meinet, es ſey dieß deſto wahrſcheinli-
cher, je deutlicher es aus ſeinen Betrachtungen uͤber die
thieriſche Natur erhelle, wie alle Handlungen, die von
den erwaͤhnten unvollkommenen Thieren verrichtet wer-
den, durch die bloße Organiſation des Koͤrpers erfolgen
koͤnnen, ohne daß es einer vorſtellenden und wollenden
Seele dazu beduͤrfe. Wenn die Frage von der Moͤg-
lichkeit iſt, ſo habe ich oft bezeugt, daß ſolche nicht ge-
laͤugnet werden kann; aber wenn man auf die uͤbrige
Analogie der Natur Ruͤckſicht nimmt: ſo deucht mich,
es ſey in dieſer Hypotheſe der Punkt der Seelenloſig-
keit in der Stufenlinie der organiſirten Weſen etwas
zu hoch hinaufgeſetzt. Weſen, in denen entweder ein
eigentliches Gehirn iſt, oder wo gewiſſe Theile vorhan-
den ſind, die deſſen Stelle vertreten, ſollten doch auch
noch als ſolche angeſehen werden, denen man eine See-
le, oder ein Seelenweſen zuſchreiben muͤßte. Denn
in dieſem Fall ſind ſie noch organiſche Einheiten, die ir-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 350. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/380>, abgerufen am 22.11.2024.
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