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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
im Anfang von ihr gelenket worden sind, ehe die Ge-
wohnheit so zu handeln sich befestiget hatte. Bey dem
Menschen, sage ich, verhält es sich so, wie die Erfah-
rung lehret. Das hungrige Kind sauget an dem Zucker,
den man ihm in den Mund stecket; aber es wird an ei-
nem Steine nagen, wenn man ihm diesen hingiebt.
Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht
nach dem Steine greift: so rührt dieß nicht daher, weil sein
Naturtrieb für sich auf jenes Objekt gestimmt ist, son-
dern daher, weil eine Vorstellung der Seele, die es aus
seinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin
lenket.

Es ist außer Zweifel, je genauer der Natur-
trieb zu gewissen Arten von Thätigkeiten bestimmt
ist, desto mehr ist er auch zugleich auf die ihm angemes-
senen Gegenstände gerichtet; wie ein Körper, der nach
einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur
auf das Objekt trift, das ihm in dieser einzigen Rich-
tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf
welche die Kraft nicht wirken kann, stoßen sie zurück,
und desto mehr, je weniger schicklich sie für sie sind; und
eben dadurch führen sie selbige auf die schicklichen Objekte
hin. Dieß ist ein Grundsatz, der es zum Theil wenig-
stens begreiflich macht, wie die Jnstinkte der Thiere
ihre Gegenstände so richtig treffen können, auch ohne
daß eine Vorstellung sie leite. Was bey dem Men-
schen Begierde ist, oder ein Bestreben auf ein vor-
gestelltes
Objekt zu wirken, das ist bey den Thieren
oft nur ein blinder Trieb, der nicht sowohl auf den Ge-
genstand gerichtet ist, als nur auf eine gewisse Art der
Thätigkeit, und nur darum auf das gehörige Objekt
trift, weil dieß es allein ist, was seinen Trieb befriedi-
gen kann. Das Kind kennet die Speise nicht, die ihm
gesund ist, und würde den Arsenik so gut in den Mund
nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge-

ruch

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
im Anfang von ihr gelenket worden ſind, ehe die Ge-
wohnheit ſo zu handeln ſich befeſtiget hatte. Bey dem
Menſchen, ſage ich, verhaͤlt es ſich ſo, wie die Erfah-
rung lehret. Das hungrige Kind ſauget an dem Zucker,
den man ihm in den Mund ſtecket; aber es wird an ei-
nem Steine nagen, wenn man ihm dieſen hingiebt.
Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht
nach dem Steine greift: ſo ruͤhrt dieß nicht daher, weil ſein
Naturtrieb fuͤr ſich auf jenes Objekt geſtimmt iſt, ſon-
dern daher, weil eine Vorſtellung der Seele, die es aus
ſeinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin
lenket.

Es iſt außer Zweifel, je genauer der Natur-
trieb zu gewiſſen Arten von Thaͤtigkeiten beſtimmt
iſt, deſto mehr iſt er auch zugleich auf die ihm angemeſ-
ſenen Gegenſtaͤnde gerichtet; wie ein Koͤrper, der nach
einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur
auf das Objekt trift, das ihm in dieſer einzigen Rich-
tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf
welche die Kraft nicht wirken kann, ſtoßen ſie zuruͤck,
und deſto mehr, je weniger ſchicklich ſie fuͤr ſie ſind; und
eben dadurch fuͤhren ſie ſelbige auf die ſchicklichen Objekte
hin. Dieß iſt ein Grundſatz, der es zum Theil wenig-
ſtens begreiflich macht, wie die Jnſtinkte der Thiere
ihre Gegenſtaͤnde ſo richtig treffen koͤnnen, auch ohne
daß eine Vorſtellung ſie leite. Was bey dem Men-
ſchen Begierde iſt, oder ein Beſtreben auf ein vor-
geſtelltes
Objekt zu wirken, das iſt bey den Thieren
oft nur ein blinder Trieb, der nicht ſowohl auf den Ge-
genſtand gerichtet iſt, als nur auf eine gewiſſe Art der
Thaͤtigkeit, und nur darum auf das gehoͤrige Objekt
trift, weil dieß es allein iſt, was ſeinen Trieb befriedi-
gen kann. Das Kind kennet die Speiſe nicht, die ihm
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nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge-

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[326/0356] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen im Anfang von ihr gelenket worden ſind, ehe die Ge- wohnheit ſo zu handeln ſich befeſtiget hatte. Bey dem Menſchen, ſage ich, verhaͤlt es ſich ſo, wie die Erfah- rung lehret. Das hungrige Kind ſauget an dem Zucker, den man ihm in den Mund ſtecket; aber es wird an ei- nem Steine nagen, wenn man ihm dieſen hingiebt. Wenn es aber in der Folge nach dem Zucker und nicht nach dem Steine greift: ſo ruͤhrt dieß nicht daher, weil ſein Naturtrieb fuͤr ſich auf jenes Objekt geſtimmt iſt, ſon- dern daher, weil eine Vorſtellung der Seele, die es aus ſeinen vorigen Empfindungen erlanget hat, es dahin lenket. Es iſt außer Zweifel, je genauer der Natur- trieb zu gewiſſen Arten von Thaͤtigkeiten beſtimmt iſt, deſto mehr iſt er auch zugleich auf die ihm angemeſ- ſenen Gegenſtaͤnde gerichtet; wie ein Koͤrper, der nach einer geraden Linie mit großer Heftigkeit fortgeht, nur auf das Objekt trift, das ihm in dieſer einzigen Rich- tung vorlieget, nicht auf andere. Die Dinge, auf welche die Kraft nicht wirken kann, ſtoßen ſie zuruͤck, und deſto mehr, je weniger ſchicklich ſie fuͤr ſie ſind; und eben dadurch fuͤhren ſie ſelbige auf die ſchicklichen Objekte hin. Dieß iſt ein Grundſatz, der es zum Theil wenig- ſtens begreiflich macht, wie die Jnſtinkte der Thiere ihre Gegenſtaͤnde ſo richtig treffen koͤnnen, auch ohne daß eine Vorſtellung ſie leite. Was bey dem Men- ſchen Begierde iſt, oder ein Beſtreben auf ein vor- geſtelltes Objekt zu wirken, das iſt bey den Thieren oft nur ein blinder Trieb, der nicht ſowohl auf den Ge- genſtand gerichtet iſt, als nur auf eine gewiſſe Art der Thaͤtigkeit, und nur darum auf das gehoͤrige Objekt trift, weil dieß es allein iſt, was ſeinen Trieb befriedi- gen kann. Das Kind kennet die Speiſe nicht, die ihm geſund iſt, und wuͤrde den Arſenik ſo gut in den Mund nehmen, als Zucker; aber der Hund, bey dem der Ge- ruch

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 326. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/356>, abgerufen am 22.11.2024.