Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit schen den Deterministen und Jndeterministen streitig ist,und der nur darum, weil er einer der verwickeltesten ist, am meisten die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen pflegt, wohl nicht so erheblich und fruchtbar in seinen Folgerun- gen seyn möge, als die streitenden Partheyen dafür hal- ten. Jch bin dieser Meinung zum Theil auch, wenn nur das Streitige, ob nämlich die menschlichen Hand- lungen, die frey sind, durch zureichende Gründe völlig bestimmt werden, oder nicht? allein auf diese einzige Stelle eingeschränket, und das Uebrige, was in der gesammten menschlichen Freyheit enthalten ist, als unabhängig von jener Streitfrage, der Seele von kei- ner Seite her entzogen werde. Man nehme heraus, was die Beobachtungen unmittelbar von der Freyheit lehren, und was ich mich angewöhnt habe, unter dem Ausdrucke von Selbstmacht der Seele über sich zu- sammen zu fassen, und untersuche dessen Folgen in der Moral, so mag das übrige zu den feinern metaphysi- schen Spekulationen gerechnet werden, welches ohne Verlust an wichtigen praktischen Einsichten als unaus- gemacht dahin gestellt bleiben kann. Jch werde wenig- stens in dem gegenwärtigen Versuche eine solche Absonde- rung vornehmen. Um so mehr, da ich mich überzeugt halte, daß die simple Erfahrungskenntniß von der Freyheit nur allein dadurch in so viele Verwirrungen ge- rathen ist, weil man sie mit allgemeinen Spekulationen zu frühzeitig vermischet hat. Es ist mir niemals schwer geworden, die Erfahrungen selbst unter sich zu vereini- gen. Aber sobald man mit den allgemeinen Begriffen von Nothwendigkeit und Zufälligkeit dazwischen kommt, und metaphysische Theorien auf die Empfindun- gen anwenden will, so scheinen sich so viele Knoten zu- sammen zu ziehen, daß man die Auflösung aufgeben, oder mit dem Schwerd sich heraushelfen, und entweder die eine oder die andere von den Beobachtungen abläu- gnen,
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit ſchen den Determiniſten und Jndeterminiſten ſtreitig iſt,und der nur darum, weil er einer der verwickelteſten iſt, am meiſten die Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen pflegt, wohl nicht ſo erheblich und fruchtbar in ſeinen Folgerun- gen ſeyn moͤge, als die ſtreitenden Partheyen dafuͤr hal- ten. Jch bin dieſer Meinung zum Theil auch, wenn nur das Streitige, ob naͤmlich die menſchlichen Hand- lungen, die frey ſind, durch zureichende Gruͤnde voͤllig beſtimmt werden, oder nicht? allein auf dieſe einzige Stelle eingeſchraͤnket, und das Uebrige, was in der geſammten menſchlichen Freyheit enthalten iſt, als unabhaͤngig von jener Streitfrage, der Seele von kei- ner Seite her entzogen werde. Man nehme heraus, was die Beobachtungen unmittelbar von der Freyheit lehren, und was ich mich angewoͤhnt habe, unter dem Ausdrucke von Selbſtmacht der Seele uͤber ſich zu- ſammen zu faſſen, und unterſuche deſſen Folgen in der Moral, ſo mag das uͤbrige zu den feinern metaphyſi- ſchen Spekulationen gerechnet werden, welches ohne Verluſt an wichtigen praktiſchen Einſichten als unaus- gemacht dahin geſtellt bleiben kann. Jch werde wenig- ſtens in dem gegenwaͤrtigen Verſuche eine ſolche Abſonde- rung vornehmen. Um ſo mehr, da ich mich uͤberzeugt halte, daß die ſimple Erfahrungskenntniß von der Freyheit nur allein dadurch in ſo viele Verwirrungen ge- rathen iſt, weil man ſie mit allgemeinen Spekulationen zu fruͤhzeitig vermiſchet hat. Es iſt mir niemals ſchwer geworden, die Erfahrungen ſelbſt unter ſich zu vereini- gen. Aber ſobald man mit den allgemeinen Begriffen von Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit dazwiſchen kommt, und metaphyſiſche Theorien auf die Empfindun- gen anwenden will, ſo ſcheinen ſich ſo viele Knoten zu- ſammen zu ziehen, daß man die Aufloͤſung aufgeben, oder mit dem Schwerd ſich heraushelfen, und entweder die eine oder die andere von den Beobachtungen ablaͤu- gnen,
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ſchen den Determiniſten und Jndeterminiſten ſtreitig iſt,
und der nur darum, weil er einer der verwickelteſten iſt,
am meiſten die Aufmerkſamkeit auf ſich zu ziehen pflegt,
wohl nicht ſo erheblich und fruchtbar in ſeinen Folgerun-
gen ſeyn moͤge, als die ſtreitenden Partheyen dafuͤr hal-
ten. Jch bin dieſer Meinung zum Theil auch, wenn
nur das Streitige, ob naͤmlich die menſchlichen Hand-
lungen, die frey ſind, durch zureichende Gruͤnde
voͤllig beſtimmt werden, oder nicht? allein auf dieſe
einzige Stelle eingeſchraͤnket, und das Uebrige, was in
der geſammten menſchlichen Freyheit enthalten iſt, als
unabhaͤngig von jener Streitfrage, der Seele von kei-
ner Seite her entzogen werde. Man nehme heraus,
was die Beobachtungen unmittelbar von der Freyheit
lehren, und was ich mich angewoͤhnt habe, unter dem
Ausdrucke von Selbſtmacht der Seele uͤber ſich zu-
ſammen zu faſſen, und unterſuche deſſen Folgen in der
Moral, ſo mag das uͤbrige zu den feinern metaphyſi-
ſchen Spekulationen gerechnet werden, welches ohne
Verluſt an wichtigen praktiſchen Einſichten als unaus-
gemacht dahin geſtellt bleiben kann. Jch werde wenig-
ſtens in dem gegenwaͤrtigen Verſuche eine ſolche Abſonde-
rung vornehmen. Um ſo mehr, da ich mich uͤberzeugt
halte, daß die ſimple Erfahrungskenntniß von der
Freyheit nur allein dadurch in ſo viele Verwirrungen ge-
rathen iſt, weil man ſie mit allgemeinen Spekulationen
zu fruͤhzeitig vermiſchet hat. Es iſt mir niemals ſchwer
geworden, die Erfahrungen ſelbſt unter ſich zu vereini-
gen. Aber ſobald man mit den allgemeinen Begriffen
von Nothwendigkeit und Zufaͤlligkeit dazwiſchen
kommt, und metaphyſiſche Theorien auf die Empfindun-
gen anwenden will, ſo ſcheinen ſich ſo viele Knoten zu-
ſammen zu ziehen, daß man die Aufloͤſung aufgeben,
oder mit dem Schwerd ſich heraushelfen, und entweder
die eine oder die andere von den Beobachtungen ablaͤu-
gnen,
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