Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
beiden sind, welche einander am meisten entgegenstehen,
indem die Eine sowohl die bleibenden Spuren, als auch
das Vermögen solche unmittelbar wieder zu erwecken,
der Seele, und die andere beides dem Organ zuschrei-
bet: so mußten wir bey ihnen auf die Data in den Er-
fahrungen treffen, so ferne es dergleichen giebt, welche
auf die vielleicht zwischen ihnen liegende Wahrheit hin-
führen. Man muß es eingestehen, daß die Beobach-
tungen keine von beiden ganz aufheben; aber auch zu-
gleich, daß jede von ihnen nur gewisse Erfahrungen völ-
lig erkläret, und als eine natürliche Folge nachziehet,
andere hingegen höchstens nur mit sich zusammenreimen
läßt. Jst man bey einer Hypothese hiemit zufrieden,
(und wie oft muß man es nicht seyn!) so läßt sich die
Eine so gut, als die andere vertheidigen. Ueberdieß
ist ihre erwähnte Eigenschaft ein Merkmal, wodurch es
wahrscheinlich wird, daß jede derselben von Einer Seite
wenigstens die Einrichtung unserer Natur richtig angebe.
Allein wenn wir eine solche Vorstellung suchen, die als-
denn nur entstehet, wenn alle verschiedenen Seiten der
Sache mit einem Blick umfasset werden, nachdem man
sie einzeln vorher betrachtet hat, und die dazu nicht bloß
mit allen Phänomenen sich reimen läßt, sondern sie alle
als nothwendige Folgen der vorausgesetzten innern Ein-
richtung darstellet und begreiflich macht; wenn wir nach
einer solchen Hypothese uns umsehen: so werden wir
schwerlich durch Eine von den beiden befriediget. Man
findet an ihnen nichts mehr, als einseitige Jdeen, die
noch sehr unvollständig zu seyn scheinen, und die doch
für vollständig gehalten werden, und also insofern etwas
irriges mit sich verbunden haben.

Sollte nun jede andere der übrigen möglichen Hy-
pothesen auf dieselbige Art beurtheilet werden, wie es bey
den vorhergehenden geschehen ist: so würden wir in eine
Weitläuftigkeit gerathen, die ich jetzo für unnöthig halte.

Wir

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
beiden ſind, welche einander am meiſten entgegenſtehen,
indem die Eine ſowohl die bleibenden Spuren, als auch
das Vermoͤgen ſolche unmittelbar wieder zu erwecken,
der Seele, und die andere beides dem Organ zuſchrei-
bet: ſo mußten wir bey ihnen auf die Data in den Er-
fahrungen treffen, ſo ferne es dergleichen giebt, welche
auf die vielleicht zwiſchen ihnen liegende Wahrheit hin-
fuͤhren. Man muß es eingeſtehen, daß die Beobach-
tungen keine von beiden ganz aufheben; aber auch zu-
gleich, daß jede von ihnen nur gewiſſe Erfahrungen voͤl-
lig erklaͤret, und als eine natuͤrliche Folge nachziehet,
andere hingegen hoͤchſtens nur mit ſich zuſammenreimen
laͤßt. Jſt man bey einer Hypotheſe hiemit zufrieden,
(und wie oft muß man es nicht ſeyn!) ſo laͤßt ſich die
Eine ſo gut, als die andere vertheidigen. Ueberdieß
iſt ihre erwaͤhnte Eigenſchaft ein Merkmal, wodurch es
wahrſcheinlich wird, daß jede derſelben von Einer Seite
wenigſtens die Einrichtung unſerer Natur richtig angebe.
Allein wenn wir eine ſolche Vorſtellung ſuchen, die als-
denn nur entſtehet, wenn alle verſchiedenen Seiten der
Sache mit einem Blick umfaſſet werden, nachdem man
ſie einzeln vorher betrachtet hat, und die dazu nicht bloß
mit allen Phaͤnomenen ſich reimen laͤßt, ſondern ſie alle
als nothwendige Folgen der vorausgeſetzten innern Ein-
richtung darſtellet und begreiflich macht; wenn wir nach
einer ſolchen Hypotheſe uns umſehen: ſo werden wir
ſchwerlich durch Eine von den beiden befriediget. Man
findet an ihnen nichts mehr, als einſeitige Jdeen, die
noch ſehr unvollſtaͤndig zu ſeyn ſcheinen, und die doch
fuͤr vollſtaͤndig gehalten werden, und alſo inſofern etwas
irriges mit ſich verbunden haben.

Sollte nun jede andere der uͤbrigen moͤglichen Hy-
potheſen auf dieſelbige Art beurtheilet werden, wie es bey
den vorhergehenden geſchehen iſt: ſo wuͤrden wir in eine
Weitlaͤuftigkeit gerathen, die ich jetzo fuͤr unnoͤthig halte.

Wir
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0314" n="284"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XIII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber das Seelenwe&#x017F;en</hi></fw><lb/>
beiden &#x017F;ind, welche einander am mei&#x017F;ten entgegen&#x017F;tehen,<lb/>
indem die Eine &#x017F;owohl die bleibenden Spuren, als auch<lb/>
das Vermo&#x0364;gen &#x017F;olche unmittelbar wieder zu erwecken,<lb/>
der Seele, und die andere beides dem Organ zu&#x017F;chrei-<lb/>
bet: &#x017F;o mußten wir bey ihnen auf die Data in den Er-<lb/>
fahrungen treffen, &#x017F;o ferne es dergleichen giebt, welche<lb/>
auf die vielleicht zwi&#x017F;chen ihnen liegende Wahrheit hin-<lb/>
fu&#x0364;hren. Man muß es einge&#x017F;tehen, daß die Beobach-<lb/>
tungen keine von beiden ganz aufheben; aber auch zu-<lb/>
gleich, daß jede von ihnen nur gewi&#x017F;&#x017F;e Erfahrungen vo&#x0364;l-<lb/>
lig erkla&#x0364;ret, und als eine natu&#x0364;rliche Folge nachziehet,<lb/>
andere hingegen ho&#x0364;ch&#x017F;tens nur mit &#x017F;ich zu&#x017F;ammenreimen<lb/>
la&#x0364;ßt. J&#x017F;t man bey einer Hypothe&#x017F;e hiemit zufrieden,<lb/>
(und wie oft muß man es nicht &#x017F;eyn!) &#x017F;o la&#x0364;ßt &#x017F;ich die<lb/>
Eine &#x017F;o gut, als die andere vertheidigen. Ueberdieß<lb/>
i&#x017F;t ihre erwa&#x0364;hnte Eigen&#x017F;chaft ein Merkmal, wodurch es<lb/>
wahr&#x017F;cheinlich wird, daß jede der&#x017F;elben von Einer Seite<lb/>
wenig&#x017F;tens die Einrichtung un&#x017F;erer Natur richtig angebe.<lb/>
Allein wenn wir eine &#x017F;olche Vor&#x017F;tellung &#x017F;uchen, die als-<lb/>
denn nur ent&#x017F;tehet, wenn alle ver&#x017F;chiedenen Seiten der<lb/>
Sache mit einem Blick umfa&#x017F;&#x017F;et werden, nachdem man<lb/>
&#x017F;ie einzeln vorher betrachtet hat, und die dazu nicht bloß<lb/>
mit allen Pha&#x0364;nomenen &#x017F;ich reimen la&#x0364;ßt, &#x017F;ondern &#x017F;ie alle<lb/>
als nothwendige Folgen der vorausge&#x017F;etzten innern Ein-<lb/>
richtung dar&#x017F;tellet und begreiflich macht; wenn wir nach<lb/>
einer &#x017F;olchen Hypothe&#x017F;e uns um&#x017F;ehen: &#x017F;o werden wir<lb/>
&#x017F;chwerlich durch Eine von den beiden befriediget. Man<lb/>
findet an ihnen nichts mehr, als ein&#x017F;eitige Jdeen, die<lb/>
noch &#x017F;ehr unvoll&#x017F;ta&#x0364;ndig zu &#x017F;eyn &#x017F;cheinen, und die doch<lb/>
fu&#x0364;r voll&#x017F;ta&#x0364;ndig gehalten werden, und al&#x017F;o in&#x017F;ofern etwas<lb/>
irriges mit &#x017F;ich verbunden haben.</p><lb/>
            <p>Sollte nun jede andere der u&#x0364;brigen mo&#x0364;glichen Hy-<lb/>
pothe&#x017F;en auf die&#x017F;elbige Art beurtheilet werden, wie es bey<lb/>
den vorhergehenden ge&#x017F;chehen i&#x017F;t: &#x017F;o wu&#x0364;rden wir in eine<lb/>
Weitla&#x0364;uftigkeit gerathen, die ich jetzo fu&#x0364;r unno&#x0364;thig halte.<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">Wir</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[284/0314] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen beiden ſind, welche einander am meiſten entgegenſtehen, indem die Eine ſowohl die bleibenden Spuren, als auch das Vermoͤgen ſolche unmittelbar wieder zu erwecken, der Seele, und die andere beides dem Organ zuſchrei- bet: ſo mußten wir bey ihnen auf die Data in den Er- fahrungen treffen, ſo ferne es dergleichen giebt, welche auf die vielleicht zwiſchen ihnen liegende Wahrheit hin- fuͤhren. Man muß es eingeſtehen, daß die Beobach- tungen keine von beiden ganz aufheben; aber auch zu- gleich, daß jede von ihnen nur gewiſſe Erfahrungen voͤl- lig erklaͤret, und als eine natuͤrliche Folge nachziehet, andere hingegen hoͤchſtens nur mit ſich zuſammenreimen laͤßt. Jſt man bey einer Hypotheſe hiemit zufrieden, (und wie oft muß man es nicht ſeyn!) ſo laͤßt ſich die Eine ſo gut, als die andere vertheidigen. Ueberdieß iſt ihre erwaͤhnte Eigenſchaft ein Merkmal, wodurch es wahrſcheinlich wird, daß jede derſelben von Einer Seite wenigſtens die Einrichtung unſerer Natur richtig angebe. Allein wenn wir eine ſolche Vorſtellung ſuchen, die als- denn nur entſtehet, wenn alle verſchiedenen Seiten der Sache mit einem Blick umfaſſet werden, nachdem man ſie einzeln vorher betrachtet hat, und die dazu nicht bloß mit allen Phaͤnomenen ſich reimen laͤßt, ſondern ſie alle als nothwendige Folgen der vorausgeſetzten innern Ein- richtung darſtellet und begreiflich macht; wenn wir nach einer ſolchen Hypotheſe uns umſehen: ſo werden wir ſchwerlich durch Eine von den beiden befriediget. Man findet an ihnen nichts mehr, als einſeitige Jdeen, die noch ſehr unvollſtaͤndig zu ſeyn ſcheinen, und die doch fuͤr vollſtaͤndig gehalten werden, und alſo inſofern etwas irriges mit ſich verbunden haben. Sollte nun jede andere der uͤbrigen moͤglichen Hy- potheſen auf dieſelbige Art beurtheilet werden, wie es bey den vorhergehenden geſchehen iſt: ſo wuͤrden wir in eine Weitlaͤuftigkeit gerathen, die ich jetzo fuͤr unnoͤthig halte. Wir

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/314
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 284. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/314>, abgerufen am 23.11.2024.