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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
bewegungen schwache nachbleibende Seelenbeschaffenhei-
ten verbunden seyn werden? Das hieße denn so viel:
die materiellen Jdeen in dem Organ würden gleichzeiti-
ge fortdaurende Seelenveränderungen erfodern,
die auf die vorhergegangenen Empfindungen in der Seele
sich eben so beziehen, wie die materielle Jdee im Gehirn
auf die Bewegung in der Empfindung. Auf diese Art
würde doch ein Vorrath von ruhenden, unaufgeweckten
Jdeen in der Seele, und also auch insoweit das Ge-
dächtniß
in ihr seinen Sitz haben, wenn gleich das
Vermögen, solche Jdeen unmittelbar zu reproduciren,
nur allein den Fibern des Gehirns zukäme.

Herr Bonnet läßt nun freylich die sinnlichen Be-
wegungen im Gehirn gänzlich aufhören, und, was zu-
rückbleibet, nichts mehr als eine Disposition, oder
eine Tendenz, oder eine Leichtigkeit zu der nämlichen
Bewegung seyn, die von einer wirklichen Bewegung,
sie mag nun bestehen worinn sie wolle, unterschie-
den ist.

Allein wenn es so ist, sollte es denn nun weniger
der Analogie der Erfahrungen zuwider seyn, gewisse
diesen organischen Dispositionen, Tendenzen oder Leich-
tigkeiten entsprechende Beschaffenheiten der Seele
selbst abzusprechen? Sollte sie nicht vielmehr etwas
ähnliches annehmen und behalten, das nämlich auf ihre
ersten Modifikationen sich auf dieselbige Weise beziehet,
und als eine permanente Spur, oder als eine Abbil-
dung
von ihnen angesehen werden kann? Jst das,
was man in dem Organ Disposition, Leichtigkeit,
Cendenz,
zu einer bestimmten Bewegung nennet, nach
den Begriffen der Naturlehre, die man von wirklichen
Dingen abstrahiret, etwas anders, als was sonsten mit
den mathematischen Ausdrücken, Element der Be-
wegung, unendlichkleine Bewegung, virtuelle,
anfängliche Bewegung
benennet wird? Und sind

diese

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
bewegungen ſchwache nachbleibende Seelenbeſchaffenhei-
ten verbunden ſeyn werden? Das hieße denn ſo viel:
die materiellen Jdeen in dem Organ wuͤrden gleichzeiti-
ge fortdaurende Seelenveraͤnderungen erfodern,
die auf die vorhergegangenen Empfindungen in der Seele
ſich eben ſo beziehen, wie die materielle Jdee im Gehirn
auf die Bewegung in der Empfindung. Auf dieſe Art
wuͤrde doch ein Vorrath von ruhenden, unaufgeweckten
Jdeen in der Seele, und alſo auch inſoweit das Ge-
daͤchtniß
in ihr ſeinen Sitz haben, wenn gleich das
Vermoͤgen, ſolche Jdeen unmittelbar zu reproduciren,
nur allein den Fibern des Gehirns zukaͤme.

Herr Bonnet laͤßt nun freylich die ſinnlichen Be-
wegungen im Gehirn gaͤnzlich aufhoͤren, und, was zu-
ruͤckbleibet, nichts mehr als eine Diſpoſition, oder
eine Tendenz, oder eine Leichtigkeit zu der naͤmlichen
Bewegung ſeyn, die von einer wirklichen Bewegung,
ſie mag nun beſtehen worinn ſie wolle, unterſchie-
den iſt.

Allein wenn es ſo iſt, ſollte es denn nun weniger
der Analogie der Erfahrungen zuwider ſeyn, gewiſſe
dieſen organiſchen Diſpoſitionen, Tendenzen oder Leich-
tigkeiten entſprechende Beſchaffenheiten der Seele
ſelbſt abzuſprechen? Sollte ſie nicht vielmehr etwas
aͤhnliches annehmen und behalten, das naͤmlich auf ihre
erſten Modifikationen ſich auf dieſelbige Weiſe beziehet,
und als eine permanente Spur, oder als eine Abbil-
dung
von ihnen angeſehen werden kann? Jſt das,
was man in dem Organ Diſpoſition, Leichtigkeit,
Cendenz,
zu einer beſtimmten Bewegung nennet, nach
den Begriffen der Naturlehre, die man von wirklichen
Dingen abſtrahiret, etwas anders, als was ſonſten mit
den mathematiſchen Ausdruͤcken, Element der Be-
wegung, unendlichkleine Bewegung, virtuelle,
anfaͤngliche Bewegung
benennet wird? Und ſind

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[276/0306] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen bewegungen ſchwache nachbleibende Seelenbeſchaffenhei- ten verbunden ſeyn werden? Das hieße denn ſo viel: die materiellen Jdeen in dem Organ wuͤrden gleichzeiti- ge fortdaurende Seelenveraͤnderungen erfodern, die auf die vorhergegangenen Empfindungen in der Seele ſich eben ſo beziehen, wie die materielle Jdee im Gehirn auf die Bewegung in der Empfindung. Auf dieſe Art wuͤrde doch ein Vorrath von ruhenden, unaufgeweckten Jdeen in der Seele, und alſo auch inſoweit das Ge- daͤchtniß in ihr ſeinen Sitz haben, wenn gleich das Vermoͤgen, ſolche Jdeen unmittelbar zu reproduciren, nur allein den Fibern des Gehirns zukaͤme. Herr Bonnet laͤßt nun freylich die ſinnlichen Be- wegungen im Gehirn gaͤnzlich aufhoͤren, und, was zu- ruͤckbleibet, nichts mehr als eine Diſpoſition, oder eine Tendenz, oder eine Leichtigkeit zu der naͤmlichen Bewegung ſeyn, die von einer wirklichen Bewegung, ſie mag nun beſtehen worinn ſie wolle, unterſchie- den iſt. Allein wenn es ſo iſt, ſollte es denn nun weniger der Analogie der Erfahrungen zuwider ſeyn, gewiſſe dieſen organiſchen Diſpoſitionen, Tendenzen oder Leich- tigkeiten entſprechende Beſchaffenheiten der Seele ſelbſt abzuſprechen? Sollte ſie nicht vielmehr etwas aͤhnliches annehmen und behalten, das naͤmlich auf ihre erſten Modifikationen ſich auf dieſelbige Weiſe beziehet, und als eine permanente Spur, oder als eine Abbil- dung von ihnen angeſehen werden kann? Jſt das, was man in dem Organ Diſpoſition, Leichtigkeit, Cendenz, zu einer beſtimmten Bewegung nennet, nach den Begriffen der Naturlehre, die man von wirklichen Dingen abſtrahiret, etwas anders, als was ſonſten mit den mathematiſchen Ausdruͤcken, Element der Be- wegung, unendlichkleine Bewegung, virtuelle, anfaͤngliche Bewegung benennet wird? Und ſind dieſe

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 276. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/306>, abgerufen am 23.11.2024.