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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.
sinnlichen Bewegungen anzunehmen, so mag in dem
Jnnern der Seele vorgehen, was da wolle, sie mag
fühlen, denken, sich bestreben, thun: sie kann dennoch
nichts von allen diesen wissen, und nicht gewahrnehmen,
daß sie es thue, woferne sie nicht die begleitende Ge-
hirnsveränderung empfinden kann. Man sieht leicht,
daß alles, was in dem Kindischwerden des Alters, und
in dem Verlust des Gedächtnisses durch Zufälle und
Krankheiten vorgehet, nur besondere Fälle sind, die un-
ter diesem allgemeinen, aus Faktis abgezogenen Gesetze
begriffen werden.

Wenn man aufs höchste zugeben wollte, daß eben
dieses ganze Faktum mit allen seinen besondern Fällen
etwas leichter aus der bonnetischen Psychologie zu be-
greifen sey, als aus derjenigen, welche die Vorstellun-
gen, und das Vermögen zu reproduciren, der Seele
als ihrem Subjekte zuschreibet: so deucht mich doch,
es enthalte auch die letztere Gründe in sich, woraus das-
selbige erkläret werden könne. Wenn das Jnstrument
des Virtuosen verstimmt ist, so kann dieser die Jdeen
von den Tönen in sich erneuern, die zu spielende Arie
im Kopf überdenken, auch mit seinen Fingern auf die
Klaves hin und her fahren, auf die nämliche Art wie
vorher, da das Jnstrument im vollkommenen Stande
war, und demohnerachtet entstehet kein Ton, der Spie-
ler vernimmt keinen, und würde nichts von dem wissen,
was er thut, wenn ers nicht aus seinen übrigen Gefüh-
len erkennte. Laßt uns die Seele in einer ähnlichen Be-
ziehung auf ihr Organ uns vorstellen: so werden wir an
jenem ein erläuterndes Beyspiel haben, das uns die
Sache wenigstens einigermaßen begreiflich macht. Die
Seele kann in sich ihre intellektuellen Vorstellungen re-
produciren, und sich wirksam mit ihrer Denkkraft be-
weisen. Wir wollen hinzusetzen, daß, wenn sie diese
Aktion und die daraus entstehende Veränderung in sich

empfin-

im Menſchen.
ſinnlichen Bewegungen anzunehmen, ſo mag in dem
Jnnern der Seele vorgehen, was da wolle, ſie mag
fuͤhlen, denken, ſich beſtreben, thun: ſie kann dennoch
nichts von allen dieſen wiſſen, und nicht gewahrnehmen,
daß ſie es thue, woferne ſie nicht die begleitende Ge-
hirnsveraͤnderung empfinden kann. Man ſieht leicht,
daß alles, was in dem Kindiſchwerden des Alters, und
in dem Verluſt des Gedaͤchtniſſes durch Zufaͤlle und
Krankheiten vorgehet, nur beſondere Faͤlle ſind, die un-
ter dieſem allgemeinen, aus Faktis abgezogenen Geſetze
begriffen werden.

Wenn man aufs hoͤchſte zugeben wollte, daß eben
dieſes ganze Faktum mit allen ſeinen beſondern Faͤllen
etwas leichter aus der bonnetiſchen Pſychologie zu be-
greifen ſey, als aus derjenigen, welche die Vorſtellun-
gen, und das Vermoͤgen zu reproduciren, der Seele
als ihrem Subjekte zuſchreibet: ſo deucht mich doch,
es enthalte auch die letztere Gruͤnde in ſich, woraus daſ-
ſelbige erklaͤret werden koͤnne. Wenn das Jnſtrument
des Virtuoſen verſtimmt iſt, ſo kann dieſer die Jdeen
von den Toͤnen in ſich erneuern, die zu ſpielende Arie
im Kopf uͤberdenken, auch mit ſeinen Fingern auf die
Klaves hin und her fahren, auf die naͤmliche Art wie
vorher, da das Jnſtrument im vollkommenen Stande
war, und demohnerachtet entſtehet kein Ton, der Spie-
ler vernimmt keinen, und wuͤrde nichts von dem wiſſen,
was er thut, wenn ers nicht aus ſeinen uͤbrigen Gefuͤh-
len erkennte. Laßt uns die Seele in einer aͤhnlichen Be-
ziehung auf ihr Organ uns vorſtellen: ſo werden wir an
jenem ein erlaͤuterndes Beyſpiel haben, das uns die
Sache wenigſtens einigermaßen begreiflich macht. Die
Seele kann in ſich ihre intellektuellen Vorſtellungen re-
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weiſen. Wir wollen hinzuſetzen, daß, wenn ſie dieſe
Aktion und die daraus entſtehende Veraͤnderung in ſich

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[271/0301] im Menſchen. ſinnlichen Bewegungen anzunehmen, ſo mag in dem Jnnern der Seele vorgehen, was da wolle, ſie mag fuͤhlen, denken, ſich beſtreben, thun: ſie kann dennoch nichts von allen dieſen wiſſen, und nicht gewahrnehmen, daß ſie es thue, woferne ſie nicht die begleitende Ge- hirnsveraͤnderung empfinden kann. Man ſieht leicht, daß alles, was in dem Kindiſchwerden des Alters, und in dem Verluſt des Gedaͤchtniſſes durch Zufaͤlle und Krankheiten vorgehet, nur beſondere Faͤlle ſind, die un- ter dieſem allgemeinen, aus Faktis abgezogenen Geſetze begriffen werden. Wenn man aufs hoͤchſte zugeben wollte, daß eben dieſes ganze Faktum mit allen ſeinen beſondern Faͤllen etwas leichter aus der bonnetiſchen Pſychologie zu be- greifen ſey, als aus derjenigen, welche die Vorſtellun- gen, und das Vermoͤgen zu reproduciren, der Seele als ihrem Subjekte zuſchreibet: ſo deucht mich doch, es enthalte auch die letztere Gruͤnde in ſich, woraus daſ- ſelbige erklaͤret werden koͤnne. Wenn das Jnſtrument des Virtuoſen verſtimmt iſt, ſo kann dieſer die Jdeen von den Toͤnen in ſich erneuern, die zu ſpielende Arie im Kopf uͤberdenken, auch mit ſeinen Fingern auf die Klaves hin und her fahren, auf die naͤmliche Art wie vorher, da das Jnſtrument im vollkommenen Stande war, und demohnerachtet entſtehet kein Ton, der Spie- ler vernimmt keinen, und wuͤrde nichts von dem wiſſen, was er thut, wenn ers nicht aus ſeinen uͤbrigen Gefuͤh- len erkennte. Laßt uns die Seele in einer aͤhnlichen Be- ziehung auf ihr Organ uns vorſtellen: ſo werden wir an jenem ein erlaͤuterndes Beyſpiel haben, das uns die Sache wenigſtens einigermaßen begreiflich macht. Die Seele kann in ſich ihre intellektuellen Vorſtellungen re- produciren, und ſich wirkſam mit ihrer Denkkraft be- weiſen. Wir wollen hinzuſetzen, daß, wenn ſie dieſe Aktion und die daraus entſtehende Veraͤnderung in ſich empfin-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/301>, abgerufen am 22.11.2024.