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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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im Menschen.
matische Kenntnisse erlanget hatte, Thränen auspreßte.
Da mit der Kindheit des Verstandes auch kindische
Sorglosigkeit und kindische Freude vergesellschaftet ist:
so möchte man diesen Zufall zwar nicht so ganz für ein
Unglück halten; aber wie unschätzbar war hier bey die-
sem würdigen Alten nicht der Verlust des Gedächtnis-
ses, mit dem alle Freuden verloren gehen, die aus der
Wiedererinnerung des rühmlich geführten Lebens ent-
springen, und die Lust, Kraft und Nahrung des Alters
seyn sollten?

Nach der bonnetischen Jdee von dem Sitz der
Vorstellungen im Gehirn, sind solche Phänomene bald
erkläret. Da es in der Seele keine bleibende intel-
lektuelle Jdee giebt: so sind alle Vorstellungen verloren,
wenn die materiellen Jdeen im Gehirn dahin sind, und
mit den Jdeen fällt zugleich die Erinnerungskraft weg.
Denn die Erinnerung hängt von der Leichtigkeit ab,
mit der man eine Jdee empfängt oder unterhält, die
man vorher schon gehabt hat, und wozu aus der ersten
Jmpression her eine Disposition zurückgeblieben ist,
welche die zwote Aufnahme derselbigen Jdee leichter
macht. Die Seele nimmt sie das zweytemal mit einer
geringern Anstrengung bey ihrer Aktion aufs Gehirn
gewahr. Hierinn liegt das Merkzeichen vor uns, daß
wir uns ehemals mit einem solchen Objekt schon be-
schäfftiget haben. Zunächst entstehet ein gewisses dun-
keles Gefühl, daß uns etwas schon bekannt sey, daß wir
es ehemals gesehen oder gehört haben, und dergleichen,
wobey wir in vielen Fällen stehen bleiben. Auf dieß
Gefühl erfolget aber eine deutliche Wiedererinnerung,
wenn zugleich eine andere Reihe associirter Vorstellun-
gen von den Umständen, von der Zeit und dem Ort,
wenn und wo wir die Jdeen gehabt haben, wieder er-
wecket wird. Jede dieser Jdeen hat auch einzeln ge-
nommen den Charakter an sich, daß sie eine Phantasie

aus

im Menſchen.
matiſche Kenntniſſe erlanget hatte, Thraͤnen auspreßte.
Da mit der Kindheit des Verſtandes auch kindiſche
Sorgloſigkeit und kindiſche Freude vergeſellſchaftet iſt:
ſo moͤchte man dieſen Zufall zwar nicht ſo ganz fuͤr ein
Ungluͤck halten; aber wie unſchaͤtzbar war hier bey die-
ſem wuͤrdigen Alten nicht der Verluſt des Gedaͤchtniſ-
ſes, mit dem alle Freuden verloren gehen, die aus der
Wiedererinnerung des ruͤhmlich gefuͤhrten Lebens ent-
ſpringen, und die Luſt, Kraft und Nahrung des Alters
ſeyn ſollten?

Nach der bonnetiſchen Jdee von dem Sitz der
Vorſtellungen im Gehirn, ſind ſolche Phaͤnomene bald
erklaͤret. Da es in der Seele keine bleibende intel-
lektuelle Jdee giebt: ſo ſind alle Vorſtellungen verloren,
wenn die materiellen Jdeen im Gehirn dahin ſind, und
mit den Jdeen faͤllt zugleich die Erinnerungskraft weg.
Denn die Erinnerung haͤngt von der Leichtigkeit ab,
mit der man eine Jdee empfaͤngt oder unterhaͤlt, die
man vorher ſchon gehabt hat, und wozu aus der erſten
Jmpreſſion her eine Diſpoſition zuruͤckgeblieben iſt,
welche die zwote Aufnahme derſelbigen Jdee leichter
macht. Die Seele nimmt ſie das zweytemal mit einer
geringern Anſtrengung bey ihrer Aktion aufs Gehirn
gewahr. Hierinn liegt das Merkzeichen vor uns, daß
wir uns ehemals mit einem ſolchen Objekt ſchon be-
ſchaͤfftiget haben. Zunaͤchſt entſtehet ein gewiſſes dun-
keles Gefuͤhl, daß uns etwas ſchon bekannt ſey, daß wir
es ehemals geſehen oder gehoͤrt haben, und dergleichen,
wobey wir in vielen Faͤllen ſtehen bleiben. Auf dieß
Gefuͤhl erfolget aber eine deutliche Wiedererinnerung,
wenn zugleich eine andere Reihe aſſociirter Vorſtellun-
gen von den Umſtaͤnden, von der Zeit und dem Ort,
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wecket wird. Jede dieſer Jdeen hat auch einzeln ge-
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[269/0299] im Menſchen. matiſche Kenntniſſe erlanget hatte, Thraͤnen auspreßte. Da mit der Kindheit des Verſtandes auch kindiſche Sorgloſigkeit und kindiſche Freude vergeſellſchaftet iſt: ſo moͤchte man dieſen Zufall zwar nicht ſo ganz fuͤr ein Ungluͤck halten; aber wie unſchaͤtzbar war hier bey die- ſem wuͤrdigen Alten nicht der Verluſt des Gedaͤchtniſ- ſes, mit dem alle Freuden verloren gehen, die aus der Wiedererinnerung des ruͤhmlich gefuͤhrten Lebens ent- ſpringen, und die Luſt, Kraft und Nahrung des Alters ſeyn ſollten? Nach der bonnetiſchen Jdee von dem Sitz der Vorſtellungen im Gehirn, ſind ſolche Phaͤnomene bald erklaͤret. Da es in der Seele keine bleibende intel- lektuelle Jdee giebt: ſo ſind alle Vorſtellungen verloren, wenn die materiellen Jdeen im Gehirn dahin ſind, und mit den Jdeen faͤllt zugleich die Erinnerungskraft weg. Denn die Erinnerung haͤngt von der Leichtigkeit ab, mit der man eine Jdee empfaͤngt oder unterhaͤlt, die man vorher ſchon gehabt hat, und wozu aus der erſten Jmpreſſion her eine Diſpoſition zuruͤckgeblieben iſt, welche die zwote Aufnahme derſelbigen Jdee leichter macht. Die Seele nimmt ſie das zweytemal mit einer geringern Anſtrengung bey ihrer Aktion aufs Gehirn gewahr. Hierinn liegt das Merkzeichen vor uns, daß wir uns ehemals mit einem ſolchen Objekt ſchon be- ſchaͤfftiget haben. Zunaͤchſt entſtehet ein gewiſſes dun- keles Gefuͤhl, daß uns etwas ſchon bekannt ſey, daß wir es ehemals geſehen oder gehoͤrt haben, und dergleichen, wobey wir in vielen Faͤllen ſtehen bleiben. Auf dieß Gefuͤhl erfolget aber eine deutliche Wiedererinnerung, wenn zugleich eine andere Reihe aſſociirter Vorſtellun- gen von den Umſtaͤnden, von der Zeit und dem Ort, wenn und wo wir die Jdeen gehabt haben, wieder er- wecket wird. Jede dieſer Jdeen hat auch einzeln ge- nommen den Charakter an ſich, daß ſie eine Phantaſie aus

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 269. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/299>, abgerufen am 23.11.2024.