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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
entstehet. Sie hat eine andere Empfindung, wenn
anstatt der Nelke der Duft aus der Rose die Nerven
rühret. Aber sobald die Empfindung der Nelke aufge-
hört hat, und nun nichts mehr als eine Leichtigkeit zu
der ähnlichen Bewegung in den Gehirnsfibern übrig
ist, so ist in der Seele keine Spur mehr davon. Diese,
als das eigentliche Jch im Menschen, ist eine unbestimm-
te, das Gehirn bewegende, fühlende Kraft, die nur jedes-
mal eine solche Form hat, als ihr von der gegenwärti-
gen Bewegung des Gehirns gegeben wird. Nur als-
denn, wenn die sinnliche Bewegung in dem Organ wie-
derum erwecket wird, nimmt auch die Seele die vorige
Form wieder an. Die Leibnitzische Erklärung von der
Seele, daß ihr wesentlicher Charakter in der Vorstel-
lungskraft bestehe, ist nach diesem System die allerun-
schicklichste. Der Mensch, das beseelte Organ, stellet
sich die Welt vor; aber die Seele fühlet nur die gegen-
wärtigen sinnlichen Bewegungen im Gehirn.

Jn der Seele selbst kann keine Vorstellung die an-
dere unmittelbar wieder erwecken. Jch habe ge-
stern einen Menschen neben einem Esel, und beyde bey
einer Quelle, gesehen. Wenn durch irgend eine Ursache
die Vorstellung von diesem Esel wieder hervorkommen
soll: so muß im Gehirn die vorige sinnliche Bewegung
erneuert werden; und wenn diese Jdee die übrigen ver-
gesellschafteten erwecket: so ziehet Eine der Gehirnsbe-
wegungen unmittelbar die zwote hervor, die in der Em-
pfindung an sie geknüpfet ward; und diese erreget die
zwote Vorstellung in der Seele. Darauf gehet das
Gehirn von der zwoten zur dritten Bewegung über; und
die dritte im Gehirn bringet die dritte in der Seele her-
vor. Die Phantasie, das Vermögen zum Wiedervor-
stellen, ist in den Fibern des Gehirns. Jn diesem lie-
gen die Jdeenreihen wie Linien, deren Punkte die ma-
teriellen Vorstellungen sind. Von jedem dieser Punkte

gehet

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
entſtehet. Sie hat eine andere Empfindung, wenn
anſtatt der Nelke der Duft aus der Roſe die Nerven
ruͤhret. Aber ſobald die Empfindung der Nelke aufge-
hoͤrt hat, und nun nichts mehr als eine Leichtigkeit zu
der aͤhnlichen Bewegung in den Gehirnsfibern uͤbrig
iſt, ſo iſt in der Seele keine Spur mehr davon. Dieſe,
als das eigentliche Jch im Menſchen, iſt eine unbeſtimm-
te, das Gehirn bewegende, fuͤhlende Kraft, die nur jedes-
mal eine ſolche Form hat, als ihr von der gegenwaͤrti-
gen Bewegung des Gehirns gegeben wird. Nur als-
denn, wenn die ſinnliche Bewegung in dem Organ wie-
derum erwecket wird, nimmt auch die Seele die vorige
Form wieder an. Die Leibnitziſche Erklaͤrung von der
Seele, daß ihr weſentlicher Charakter in der Vorſtel-
lungskraft beſtehe, iſt nach dieſem Syſtem die allerun-
ſchicklichſte. Der Menſch, das beſeelte Organ, ſtellet
ſich die Welt vor; aber die Seele fuͤhlet nur die gegen-
waͤrtigen ſinnlichen Bewegungen im Gehirn.

Jn der Seele ſelbſt kann keine Vorſtellung die an-
dere unmittelbar wieder erwecken. Jch habe ge-
ſtern einen Menſchen neben einem Eſel, und beyde bey
einer Quelle, geſehen. Wenn durch irgend eine Urſache
die Vorſtellung von dieſem Eſel wieder hervorkommen
ſoll: ſo muß im Gehirn die vorige ſinnliche Bewegung
erneuert werden; und wenn dieſe Jdee die uͤbrigen ver-
geſellſchafteten erwecket: ſo ziehet Eine der Gehirnsbe-
wegungen unmittelbar die zwote hervor, die in der Em-
pfindung an ſie geknuͤpfet ward; und dieſe erreget die
zwote Vorſtellung in der Seele. Darauf gehet das
Gehirn von der zwoten zur dritten Bewegung uͤber; und
die dritte im Gehirn bringet die dritte in der Seele her-
vor. Die Phantaſie, das Vermoͤgen zum Wiedervor-
ſtellen, iſt in den Fibern des Gehirns. Jn dieſem lie-
gen die Jdeenreihen wie Linien, deren Punkte die ma-
teriellen Vorſtellungen ſind. Von jedem dieſer Punkte

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[242/0272] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen entſtehet. Sie hat eine andere Empfindung, wenn anſtatt der Nelke der Duft aus der Roſe die Nerven ruͤhret. Aber ſobald die Empfindung der Nelke aufge- hoͤrt hat, und nun nichts mehr als eine Leichtigkeit zu der aͤhnlichen Bewegung in den Gehirnsfibern uͤbrig iſt, ſo iſt in der Seele keine Spur mehr davon. Dieſe, als das eigentliche Jch im Menſchen, iſt eine unbeſtimm- te, das Gehirn bewegende, fuͤhlende Kraft, die nur jedes- mal eine ſolche Form hat, als ihr von der gegenwaͤrti- gen Bewegung des Gehirns gegeben wird. Nur als- denn, wenn die ſinnliche Bewegung in dem Organ wie- derum erwecket wird, nimmt auch die Seele die vorige Form wieder an. Die Leibnitziſche Erklaͤrung von der Seele, daß ihr weſentlicher Charakter in der Vorſtel- lungskraft beſtehe, iſt nach dieſem Syſtem die allerun- ſchicklichſte. Der Menſch, das beſeelte Organ, ſtellet ſich die Welt vor; aber die Seele fuͤhlet nur die gegen- waͤrtigen ſinnlichen Bewegungen im Gehirn. Jn der Seele ſelbſt kann keine Vorſtellung die an- dere unmittelbar wieder erwecken. Jch habe ge- ſtern einen Menſchen neben einem Eſel, und beyde bey einer Quelle, geſehen. Wenn durch irgend eine Urſache die Vorſtellung von dieſem Eſel wieder hervorkommen ſoll: ſo muß im Gehirn die vorige ſinnliche Bewegung erneuert werden; und wenn dieſe Jdee die uͤbrigen ver- geſellſchafteten erwecket: ſo ziehet Eine der Gehirnsbe- wegungen unmittelbar die zwote hervor, die in der Em- pfindung an ſie geknuͤpfet ward; und dieſe erreget die zwote Vorſtellung in der Seele. Darauf gehet das Gehirn von der zwoten zur dritten Bewegung uͤber; und die dritte im Gehirn bringet die dritte in der Seele her- vor. Die Phantaſie, das Vermoͤgen zum Wiedervor- ſtellen, iſt in den Fibern des Gehirns. Jn dieſem lie- gen die Jdeenreihen wie Linien, deren Punkte die ma- teriellen Vorſtellungen ſind. Von jedem dieſer Punkte gehet

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 242. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/272>, abgerufen am 24.11.2024.