Der Verfasser des bekannten Essai de Psychologie, wovon man nun weiß, daß es Hr. Bonnet nicht ist, hatte dieselbige Meinung schon vorgetragen; aber Hr. Bonnet hat sie in seinem bekannten Versuche so völ- lig ausgebildet, daß sie wohl den Namen von ihm füh- ren kann. Man muß gleich anfangs gestehen, wie viel oder wenig man auch dem Fundament und der Fe- stigkeit dieses neuen psychologischen Gebäudes zutrauen mag: so ist doch seine Form und die Zusammenfügung seiner Theile ein Meisterstück der philosophischen Archi- tektonik. Es ist mit ausnehmender Vorsichtigkeit und mit einer Aufmerksamkeit von dem vortrefflichen Manne bearbeitet, die beständig das Ganze vor sich hatte, und in seinem Jnnern die lichtvolleste Ordnung erhalten hat, die es in allen seinen Theilen leicht übersehen lässet. Jch will zuvörderst die Grundlage hersetzen.
Der Mensch empfindet. Alsdenn ist eine Modi- fikation in dem Gehirn vorhanden, eine uns unbekann- te Bewegung in seinen Fibern, in ihren festen oder flüs- sigen Theilen. Die Seele reagirt auf das Gehirn, und wird dadurch zugleich modificirt; und dieser ihre Modi- fikation ist es, was wir das Gefühl, die Empfin- dung, oder die Perception des Objekts nennen.
Hat die Empfindung aufgehört, so ist -- voraus- gesetzt, daß sie einen gewissen Grad von Stärke und Lebhaftigkeit gehabt habe -- in der bewegten Fiber des Gehirns eine Veränderung vorgegangen. Diese kann nunmehr leichter auf die nämliche Art beweget werden; -- vielleicht hat sie eine gewisse Tendenz sich so zu bewegen bekommen; -- sie kann nunmehr fast durch jedwede Ursache, die sie etwas stark erschüttert, in den vorigen Schwung versetzet werden, wenn gleich nicht so stark, als der Eindruck von außen in der Em- pfindung es gethan hatte. Die Fiber besaß diese Dis- position, leichter eine gewisse sinnliche Bewegung an-
zuneh-
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Der Verfaſſer des bekannten Eſſai de Pſychologie, wovon man nun weiß, daß es Hr. Bonnet nicht iſt, hatte dieſelbige Meinung ſchon vorgetragen; aber Hr. Bonnet hat ſie in ſeinem bekannten Verſuche ſo voͤl- lig ausgebildet, daß ſie wohl den Namen von ihm fuͤh- ren kann. Man muß gleich anfangs geſtehen, wie viel oder wenig man auch dem Fundament und der Fe- ſtigkeit dieſes neuen pſychologiſchen Gebaͤudes zutrauen mag: ſo iſt doch ſeine Form und die Zuſammenfuͤgung ſeiner Theile ein Meiſterſtuͤck der philoſophiſchen Archi- tektonik. Es iſt mit ausnehmender Vorſichtigkeit und mit einer Aufmerkſamkeit von dem vortrefflichen Manne bearbeitet, die beſtaͤndig das Ganze vor ſich hatte, und in ſeinem Jnnern die lichtvolleſte Ordnung erhalten hat, die es in allen ſeinen Theilen leicht uͤberſehen laͤſſet. Jch will zuvoͤrderſt die Grundlage herſetzen.
Der Menſch empfindet. Alsdenn iſt eine Modi- fikation in dem Gehirn vorhanden, eine uns unbekann- te Bewegung in ſeinen Fibern, in ihren feſten oder fluͤſ- ſigen Theilen. Die Seele reagirt auf das Gehirn, und wird dadurch zugleich modificirt; und dieſer ihre Modi- fikation iſt es, was wir das Gefuͤhl, die Empfin- dung, oder die Perception des Objekts nennen.
Hat die Empfindung aufgehoͤrt, ſo iſt — voraus- geſetzt, daß ſie einen gewiſſen Grad von Staͤrke und Lebhaftigkeit gehabt habe — in der bewegten Fiber des Gehirns eine Veraͤnderung vorgegangen. Dieſe kann nunmehr leichter auf die naͤmliche Art beweget werden; — vielleicht hat ſie eine gewiſſe Tendenz ſich ſo zu bewegen bekommen; — ſie kann nunmehr faſt durch jedwede Urſache, die ſie etwas ſtark erſchuͤttert, in den vorigen Schwung verſetzet werden, wenn gleich nicht ſo ſtark, als der Eindruck von außen in der Em- pfindung es gethan hatte. Die Fiber beſaß dieſe Diſ- poſition, leichter eine gewiſſe ſinnliche Bewegung an-
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Der Verfaſſer des bekannten Eſſai de Pſychologie,
wovon man nun weiß, daß es Hr. Bonnet nicht iſt,
hatte dieſelbige Meinung ſchon vorgetragen; aber Hr.
Bonnet hat ſie in ſeinem bekannten Verſuche ſo voͤl-
lig ausgebildet, daß ſie wohl den Namen von ihm fuͤh-
ren kann. Man muß gleich anfangs geſtehen, wie
viel oder wenig man auch dem Fundament und der Fe-
ſtigkeit dieſes neuen pſychologiſchen Gebaͤudes zutrauen
mag: ſo iſt doch ſeine Form und die Zuſammenfuͤgung
ſeiner Theile ein Meiſterſtuͤck der philoſophiſchen Archi-
tektonik. Es iſt mit ausnehmender Vorſichtigkeit und
mit einer Aufmerkſamkeit von dem vortrefflichen Manne
bearbeitet, die beſtaͤndig das Ganze vor ſich hatte, und
in ſeinem Jnnern die lichtvolleſte Ordnung erhalten hat,
die es in allen ſeinen Theilen leicht uͤberſehen laͤſſet. Jch
will zuvoͤrderſt die Grundlage herſetzen.
Der Menſch empfindet. Alsdenn iſt eine Modi-
fikation in dem Gehirn vorhanden, eine uns unbekann-
te Bewegung in ſeinen Fibern, in ihren feſten oder fluͤſ-
ſigen Theilen. Die Seele reagirt auf das Gehirn, und
wird dadurch zugleich modificirt; und dieſer ihre Modi-
fikation iſt es, was wir das Gefuͤhl, die Empfin-
dung, oder die Perception des Objekts nennen.
Hat die Empfindung aufgehoͤrt, ſo iſt — voraus-
geſetzt, daß ſie einen gewiſſen Grad von Staͤrke und
Lebhaftigkeit gehabt habe — in der bewegten Fiber
des Gehirns eine Veraͤnderung vorgegangen. Dieſe
kann nunmehr leichter auf die naͤmliche Art beweget
werden; — vielleicht hat ſie eine gewiſſe Tendenz ſich
ſo zu bewegen bekommen; — ſie kann nunmehr faſt
durch jedwede Urſache, die ſie etwas ſtark erſchuͤttert,
in den vorigen Schwung verſetzet werden, wenn gleich
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 240. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/270>, abgerufen am 27.11.2024.
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