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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
auch die Metaphysiker vieles über die Natur der Sub-
stanzen aus Begriffen raisonnirt, das, wenn es hier
sicher gebrauchet werden könnte, uns die Dienste der
Teleskope thun möchte. Aber so scheinet jetzo noch
nichts anders übrig zu seyn, als daß man sich auf den
langen und zum Theil ungebahnten Weg der Erfahrung
zu Fuß begebe, und langsam immer etwas näher hinan
zu kommen suche.

Hiebey muß ich aber noch folgende Anmerkung hin-
zusetzen. Wenn gleich die hier aufgezählten vier Ver-
schiedenheiten alle mögliche Hypothesen begreifen, die
man über den Sitz des Gedächtnisses, insoferne solches den
Jnbegriff der ruhenden Vorstellungen ausmachet, ersin-
nen kann, so sind sie es doch nicht alle, die möglich sind,
wenn auch zugleich der Sitz der Wiedervorstellungs-
kraft
oder des Vermögens zu reproduciren bestim-
met werden soll. Die hinterbliebene Spur der Em-
pfindung kann in dem Gehirn, und die Kraft sie wieder
zu erwecken, in der Seele, oder umgekehrt, das Ver-
mögen der Reproduktion in dem Gehirn, und die erweck-
bare Spur in der Seele seyn. Die Kraft und ihr
Objekt können in demselbigen Wesen beysammen, oder
sie können auch getrennet seyn. Diese mögliche Ver-
schiedenheit ist also noch mit jener zu verbinden; und
daher kann jede der obigen vier Hypothesen, in zwo
Nebenhypothesen auseinander gehen, wie sich bald erge-
ben wird, wenn man in die Untersuchung der Sache
selbst etwas hineingehet. Nun ist schon vorher ange-
merket worden, daß unter dem Namen von Vorstel-
lungen
nicht jedwede hinterbliebene Spuren verstan-
den werden, sondern eine solche, welche durch innere
Ursachen in der Seele auch wieder erwecket werden kann,
wenn gleich die Einwirkung der Ursachen fehlet, welche
die ersten Jmpressionen in der Empfindung hervorbrachte.
Es ist nichts daran gelegen, wenn man den Sitz des

Gedächt-

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
auch die Metaphyſiker vieles uͤber die Natur der Sub-
ſtanzen aus Begriffen raiſonnirt, das, wenn es hier
ſicher gebrauchet werden koͤnnte, uns die Dienſte der
Teleſkope thun moͤchte. Aber ſo ſcheinet jetzo noch
nichts anders uͤbrig zu ſeyn, als daß man ſich auf den
langen und zum Theil ungebahnten Weg der Erfahrung
zu Fuß begebe, und langſam immer etwas naͤher hinan
zu kommen ſuche.

Hiebey muß ich aber noch folgende Anmerkung hin-
zuſetzen. Wenn gleich die hier aufgezaͤhlten vier Ver-
ſchiedenheiten alle moͤgliche Hypotheſen begreifen, die
man uͤber den Sitz des Gedaͤchtniſſes, inſoferne ſolches den
Jnbegriff der ruhenden Vorſtellungen ausmachet, erſin-
nen kann, ſo ſind ſie es doch nicht alle, die moͤglich ſind,
wenn auch zugleich der Sitz der Wiedervorſtellungs-
kraft
oder des Vermoͤgens zu reproduciren beſtim-
met werden ſoll. Die hinterbliebene Spur der Em-
pfindung kann in dem Gehirn, und die Kraft ſie wieder
zu erwecken, in der Seele, oder umgekehrt, das Ver-
moͤgen der Reproduktion in dem Gehirn, und die erweck-
bare Spur in der Seele ſeyn. Die Kraft und ihr
Objekt koͤnnen in demſelbigen Weſen beyſammen, oder
ſie koͤnnen auch getrennet ſeyn. Dieſe moͤgliche Ver-
ſchiedenheit iſt alſo noch mit jener zu verbinden; und
daher kann jede der obigen vier Hypotheſen, in zwo
Nebenhypotheſen auseinander gehen, wie ſich bald erge-
ben wird, wenn man in die Unterſuchung der Sache
ſelbſt etwas hineingehet. Nun iſt ſchon vorher ange-
merket worden, daß unter dem Namen von Vorſtel-
lungen
nicht jedwede hinterbliebene Spuren verſtan-
den werden, ſondern eine ſolche, welche durch innere
Urſachen in der Seele auch wieder erwecket werden kann,
wenn gleich die Einwirkung der Urſachen fehlet, welche
die erſten Jmpreſſionen in der Empfindung hervorbrachte.
Es iſt nichts daran gelegen, wenn man den Sitz des

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[222/0252] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen auch die Metaphyſiker vieles uͤber die Natur der Sub- ſtanzen aus Begriffen raiſonnirt, das, wenn es hier ſicher gebrauchet werden koͤnnte, uns die Dienſte der Teleſkope thun moͤchte. Aber ſo ſcheinet jetzo noch nichts anders uͤbrig zu ſeyn, als daß man ſich auf den langen und zum Theil ungebahnten Weg der Erfahrung zu Fuß begebe, und langſam immer etwas naͤher hinan zu kommen ſuche. Hiebey muß ich aber noch folgende Anmerkung hin- zuſetzen. Wenn gleich die hier aufgezaͤhlten vier Ver- ſchiedenheiten alle moͤgliche Hypotheſen begreifen, die man uͤber den Sitz des Gedaͤchtniſſes, inſoferne ſolches den Jnbegriff der ruhenden Vorſtellungen ausmachet, erſin- nen kann, ſo ſind ſie es doch nicht alle, die moͤglich ſind, wenn auch zugleich der Sitz der Wiedervorſtellungs- kraft oder des Vermoͤgens zu reproduciren beſtim- met werden ſoll. Die hinterbliebene Spur der Em- pfindung kann in dem Gehirn, und die Kraft ſie wieder zu erwecken, in der Seele, oder umgekehrt, das Ver- moͤgen der Reproduktion in dem Gehirn, und die erweck- bare Spur in der Seele ſeyn. Die Kraft und ihr Objekt koͤnnen in demſelbigen Weſen beyſammen, oder ſie koͤnnen auch getrennet ſeyn. Dieſe moͤgliche Ver- ſchiedenheit iſt alſo noch mit jener zu verbinden; und daher kann jede der obigen vier Hypotheſen, in zwo Nebenhypotheſen auseinander gehen, wie ſich bald erge- ben wird, wenn man in die Unterſuchung der Sache ſelbſt etwas hineingehet. Nun iſt ſchon vorher ange- merket worden, daß unter dem Namen von Vorſtel- lungen nicht jedwede hinterbliebene Spuren verſtan- den werden, ſondern eine ſolche, welche durch innere Urſachen in der Seele auch wieder erwecket werden kann, wenn gleich die Einwirkung der Urſachen fehlet, welche die erſten Jmpreſſionen in der Empfindung hervorbrachte. Es iſt nichts daran gelegen, wenn man den Sitz des Gedaͤcht-

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 222. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/252>, abgerufen am 24.11.2024.