Jst die ideelle Extension ein brauchbares sinnli- ches Bild von der Mannichfaltigkeit in der Ein- heit beider Substanzen, und ist es also auch erlaubt, die immaterielle Seele uns wie ein Wesen von einer gewis- sen Gestalt und Form vorzubilden, um dem Verstande ihre Betrachtung zu erleichtern, so ist noch dieses eine zwote Frage: ob sie auch etwas mehr als ein solches Bild sey? Muß das Einfache nothwendig einen Raum auf eine solche Art einnehmen? Dieß wird man wohl schwerlich einräumen, wenn man weis, woher und auf welche Art die Jdee vom Raum in uns entstehet. Sie ist aus den Gesichts- und Gefühlsempfindungen her.*) Das Ohr empfindet sowohl mehrere verschie- dene Töne zugleich, als Einen Ton auf einmal; aber diese Vereinigung in den Gehörseindrücken giebt uns kein solches Bild von der Ausdehnung, wie wir aus dem Gesicht und aus dem Gefühl dadurch erlangen, daß jeder Eindruck ein gleichzeitiger vereinigter Eindruck von vielen ist. Die innern Selbstgefühle geben uns eben so wenig ein solches Bild. Was ist also die Frage: ob die Seele, vorausgesetzt daß sie eine substanzielle Einheit sey, eine Ausdehnung an sich habe, und von welcher Figur und Gestalt sie sey? anders, als die Frage jenes Blinden: welchen Ton die rothe Farbe habe? oder die Frage eines Gehörlosen: auf welche Art der Ton einer Trompete gefärbet sey? Wenn nämlich unter der Jdee von der ideellen Ausdehnung das Besondere in unserm Bilde einbegriffen ist, und also noch etwas näher bestimm- tes darinnen lieget, als in dem Allgemeinbegriff von Man- nichfaltigkeit der Beschaffenheiten in der für sich bestehenden Einheit: wer kann denn sagen, daß die Seele zu der Art von Objekten gehöre, die durchs Ge- sicht oder durchs äußerliche körperliche Gefühl empfun-
den
*) Vierter Versuch VII. 4.
XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Jſt die ideelle Extenſion ein brauchbares ſinnli- ches Bild von der Mannichfaltigkeit in der Ein- heit beider Subſtanzen, und iſt es alſo auch erlaubt, die immaterielle Seele uns wie ein Weſen von einer gewiſ- ſen Geſtalt und Form vorzubilden, um dem Verſtande ihre Betrachtung zu erleichtern, ſo iſt noch dieſes eine zwote Frage: ob ſie auch etwas mehr als ein ſolches Bild ſey? Muß das Einfache nothwendig einen Raum auf eine ſolche Art einnehmen? Dieß wird man wohl ſchwerlich einraͤumen, wenn man weis, woher und auf welche Art die Jdee vom Raum in uns entſtehet. Sie iſt aus den Geſichts- und Gefuͤhlsempfindungen her.*) Das Ohr empfindet ſowohl mehrere verſchie- dene Toͤne zugleich, als Einen Ton auf einmal; aber dieſe Vereinigung in den Gehoͤrseindruͤcken giebt uns kein ſolches Bild von der Ausdehnung, wie wir aus dem Geſicht und aus dem Gefuͤhl dadurch erlangen, daß jeder Eindruck ein gleichzeitiger vereinigter Eindruck von vielen iſt. Die innern Selbſtgefuͤhle geben uns eben ſo wenig ein ſolches Bild. Was iſt alſo die Frage: ob die Seele, vorausgeſetzt daß ſie eine ſubſtanzielle Einheit ſey, eine Ausdehnung an ſich habe, und von welcher Figur und Geſtalt ſie ſey? anders, als die Frage jenes Blinden: welchen Ton die rothe Farbe habe? oder die Frage eines Gehoͤrloſen: auf welche Art der Ton einer Trompete gefaͤrbet ſey? Wenn naͤmlich unter der Jdee von der ideellen Ausdehnung das Beſondere in unſerm Bilde einbegriffen iſt, und alſo noch etwas naͤher beſtimm- tes darinnen lieget, als in dem Allgemeinbegriff von Man- nichfaltigkeit der Beſchaffenheiten in der fuͤr ſich beſtehenden Einheit: wer kann denn ſagen, daß die Seele zu der Art von Objekten gehoͤre, die durchs Ge- ſicht oder durchs aͤußerliche koͤrperliche Gefuͤhl empfun-
den
*) Vierter Verſuch VII. 4.
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XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
Jſt die ideelle Extenſion ein brauchbares ſinnli-
ches Bild von der Mannichfaltigkeit in der Ein-
heit beider Subſtanzen, und iſt es alſo auch erlaubt, die
immaterielle Seele uns wie ein Weſen von einer gewiſ-
ſen Geſtalt und Form vorzubilden, um dem Verſtande
ihre Betrachtung zu erleichtern, ſo iſt noch dieſes eine
zwote Frage: ob ſie auch etwas mehr als ein ſolches
Bild ſey? Muß das Einfache nothwendig einen Raum
auf eine ſolche Art einnehmen? Dieß wird man wohl
ſchwerlich einraͤumen, wenn man weis, woher und
auf welche Art die Jdee vom Raum in uns entſtehet.
Sie iſt aus den Geſichts- und Gefuͤhlsempfindungen
her. *) Das Ohr empfindet ſowohl mehrere verſchie-
dene Toͤne zugleich, als Einen Ton auf einmal; aber
dieſe Vereinigung in den Gehoͤrseindruͤcken giebt uns
kein ſolches Bild von der Ausdehnung, wie wir aus
dem Geſicht und aus dem Gefuͤhl dadurch erlangen, daß
jeder Eindruck ein gleichzeitiger vereinigter Eindruck von
vielen iſt. Die innern Selbſtgefuͤhle geben uns eben
ſo wenig ein ſolches Bild. Was iſt alſo die Frage:
ob die Seele, vorausgeſetzt daß ſie eine ſubſtanzielle
Einheit ſey, eine Ausdehnung an ſich habe, und von
welcher Figur und Geſtalt ſie ſey? anders, als die Frage
jenes Blinden: welchen Ton die rothe Farbe habe? oder
die Frage eines Gehoͤrloſen: auf welche Art der Ton einer
Trompete gefaͤrbet ſey? Wenn naͤmlich unter der Jdee von
der ideellen Ausdehnung das Beſondere in unſerm
Bilde einbegriffen iſt, und alſo noch etwas naͤher beſtimm-
tes darinnen lieget, als in dem Allgemeinbegriff von Man-
nichfaltigkeit der Beſchaffenheiten in der fuͤr ſich
beſtehenden Einheit: wer kann denn ſagen, daß die
Seele zu der Art von Objekten gehoͤre, die durchs Ge-
ſicht oder durchs aͤußerliche koͤrperliche Gefuͤhl empfun-
den
*) Vierter Verſuch VII. 4.
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 190. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/220>, abgerufen am 24.11.2024.
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