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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XIII. Versuch. Ueber das Seelenwesen
auf der Netzhaut von der rothen nicht einerley mit dem
Bild von der blauen ist, so können die ihnen zugehöri-
gen innern Gehirnsveränderungen, die Fiberschwingun-
gen, und die von ihnen zurückgebliebenen, ruhenden, ma-
teriellen Jdeen, nicht von beiden die nämlichen seyn. So
sind auch die ganzen Empfindungen nicht einerley, und
also auch die Bestimmungen und Modifikationen der
Seele nicht. Die materiellen Jdeen sind also einerley
und verschieden, wie die Objekte außer uns und die
Seelenveränderungen in uns es sind, und das Mannich-
faltige in jenen beziehet sich auf eine ähnliche Art auf
einander, wie das Mannichfaltige in den Zeichen und
Bildern auf das Mannichfaltige in den abgebildeten Sa-
chen. Wenn man will, so kann man die materiellen
Jdeen dieser Analogie wegen Bilder der Gegenstände
nennen.

Aber man würde viel zu voreilig schließen, wenn
man aus dieser allgemeinen Analogie folgern wollte, daß
sie in der Maße Bilder der Objekte seyn müßten, wie
die bekannten Bilder auf der Netzhaut im Auge es sind.
So haben einige sie sinnreich gnug uns beschrieben.
Solche Gehirnsveränderungen, wie die materiellen
Jdeen sind, können vielleicht nicht mehr Bilder seyn,
als der helle Fleck, den man auf einem Papier siehet,
wenn man die durch ein erhabenes Glas fallenden Licht-
strahlen, nicht an dem Ort des Bildes, sondern näher
an dem Glase, oder weiter von ihm ab auffängt, ein
Bild des Gegenstandes ist. Das verwirrte Licht auf
dieser Stelle hat zwar seine analogische Beziehung so
wohl auf das Objekt vor dem Glase, von dem es ausge-
het, als auf das Bild in dem Vereinigungsort hinter
dem Glase, wo die von den einzelnen Punkten ausge-
henden Strahlen wieder in besondere Punkte vereiniget
werden. Dennoch siehet man auf der erwähnten hellen
Stelle nichts, dem man den Namen des Bildes bey-

legen

XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen
auf der Netzhaut von der rothen nicht einerley mit dem
Bild von der blauen iſt, ſo koͤnnen die ihnen zugehoͤri-
gen innern Gehirnsveraͤnderungen, die Fiberſchwingun-
gen, und die von ihnen zuruͤckgebliebenen, ruhenden, ma-
teriellen Jdeen, nicht von beiden die naͤmlichen ſeyn. So
ſind auch die ganzen Empfindungen nicht einerley, und
alſo auch die Beſtimmungen und Modifikationen der
Seele nicht. Die materiellen Jdeen ſind alſo einerley
und verſchieden, wie die Objekte außer uns und die
Seelenveraͤnderungen in uns es ſind, und das Mannich-
faltige in jenen beziehet ſich auf eine aͤhnliche Art auf
einander, wie das Mannichfaltige in den Zeichen und
Bildern auf das Mannichfaltige in den abgebildeten Sa-
chen. Wenn man will, ſo kann man die materiellen
Jdeen dieſer Analogie wegen Bilder der Gegenſtaͤnde
nennen.

Aber man wuͤrde viel zu voreilig ſchließen, wenn
man aus dieſer allgemeinen Analogie folgern wollte, daß
ſie in der Maße Bilder der Objekte ſeyn muͤßten, wie
die bekannten Bilder auf der Netzhaut im Auge es ſind.
So haben einige ſie ſinnreich gnug uns beſchrieben.
Solche Gehirnsveraͤnderungen, wie die materiellen
Jdeen ſind, koͤnnen vielleicht nicht mehr Bilder ſeyn,
als der helle Fleck, den man auf einem Papier ſiehet,
wenn man die durch ein erhabenes Glas fallenden Licht-
ſtrahlen, nicht an dem Ort des Bildes, ſondern naͤher
an dem Glaſe, oder weiter von ihm ab auffaͤngt, ein
Bild des Gegenſtandes iſt. Das verwirrte Licht auf
dieſer Stelle hat zwar ſeine analogiſche Beziehung ſo
wohl auf das Objekt vor dem Glaſe, von dem es ausge-
het, als auf das Bild in dem Vereinigungsort hinter
dem Glaſe, wo die von den einzelnen Punkten ausge-
henden Strahlen wieder in beſondere Punkte vereiniget
werden. Dennoch ſiehet man auf der erwaͤhnten hellen
Stelle nichts, dem man den Namen des Bildes bey-

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[168/0198] XIII. Verſuch. Ueber das Seelenweſen auf der Netzhaut von der rothen nicht einerley mit dem Bild von der blauen iſt, ſo koͤnnen die ihnen zugehoͤri- gen innern Gehirnsveraͤnderungen, die Fiberſchwingun- gen, und die von ihnen zuruͤckgebliebenen, ruhenden, ma- teriellen Jdeen, nicht von beiden die naͤmlichen ſeyn. So ſind auch die ganzen Empfindungen nicht einerley, und alſo auch die Beſtimmungen und Modifikationen der Seele nicht. Die materiellen Jdeen ſind alſo einerley und verſchieden, wie die Objekte außer uns und die Seelenveraͤnderungen in uns es ſind, und das Mannich- faltige in jenen beziehet ſich auf eine aͤhnliche Art auf einander, wie das Mannichfaltige in den Zeichen und Bildern auf das Mannichfaltige in den abgebildeten Sa- chen. Wenn man will, ſo kann man die materiellen Jdeen dieſer Analogie wegen Bilder der Gegenſtaͤnde nennen. Aber man wuͤrde viel zu voreilig ſchließen, wenn man aus dieſer allgemeinen Analogie folgern wollte, daß ſie in der Maße Bilder der Objekte ſeyn muͤßten, wie die bekannten Bilder auf der Netzhaut im Auge es ſind. So haben einige ſie ſinnreich gnug uns beſchrieben. Solche Gehirnsveraͤnderungen, wie die materiellen Jdeen ſind, koͤnnen vielleicht nicht mehr Bilder ſeyn, als der helle Fleck, den man auf einem Papier ſiehet, wenn man die durch ein erhabenes Glas fallenden Licht- ſtrahlen, nicht an dem Ort des Bildes, ſondern naͤher an dem Glaſe, oder weiter von ihm ab auffaͤngt, ein Bild des Gegenſtandes iſt. Das verwirrte Licht auf dieſer Stelle hat zwar ſeine analogiſche Beziehung ſo wohl auf das Objekt vor dem Glaſe, von dem es ausge- het, als auf das Bild in dem Vereinigungsort hinter dem Glaſe, wo die von den einzelnen Punkten ausge- henden Strahlen wieder in beſondere Punkte vereiniget werden. Dennoch ſiehet man auf der erwaͤhnten hellen Stelle nichts, dem man den Namen des Bildes bey- legen

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 168. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/198>, abgerufen am 24.11.2024.