Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
wie unterschiedene Aktionen selbst. Die Menschenseele
hat eine eingeschränkte Sphäre ihrer Wirksamkeit. Sie
vertreiben einander nicht ganz aus der Seele, aber sie
vertreiben einander, so zu sagen, aus ihren nächsten
Stellen von der Seele, von dem Platze der leichtern
Reproducibilität weg, wo die thätige Kraft am leichte-
sten sich auf sie verwenden kann. Denn nicht jede Vor-
stellung, die in uns vorhanden ist, kann in jedem Zu-
stande und unter jeden Umständen unmittelbar reprodu-
cirt werden. Hiezu ist es erfoderlich, daß sie mit den
unmittelbar gegenwärtigen in einer nähern Verbindung
stehe, oder selbst darunter gehöre. Die menschliche
Freyheit ist in allen Hinsichten endlich und einge-
schränkt.

XIV.
Von den Folgen der Freyheit in den freyen Hand-
lungen selbst.

Wer Freyheit besitzet, besitzet wahre reelle Vermö-
gen, und zwar mehrere neben einander. Von
der Freyheit hängt auch die Moralität des freyen We-
sens ab, und beides ist ein Ausfluß, der in der Selbst-
thätigkeit der Wesen seine Quelle hat. Selbstthätig-
keit ist zwar für sich allein keine Freyheit, und giebt den
Wesen, die sie besitzen, für sich allein keine moralische
Natur. Aber wenn die Selbstthätigkeit erhöhet und
ausgedehnet wird, und also mehrere gleichzeitige Thä-
tigkeiten nach mehrern Seiten, und in verschiedenen
Richtungen hin, entstehen, so wird ein solches selbst-
thätiges Wesen ein freyes Wesen, wenn es Vorstellun-
gen von Handlungen aufnimmt, und diese durch seine
innere Selbstmacht reproduciren kann.

Zunächst begreift man daraus, warum freye Hand-
lungen in einem höhern Verstande dem handelnden We-

sen

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
wie unterſchiedene Aktionen ſelbſt. Die Menſchenſeele
hat eine eingeſchraͤnkte Sphaͤre ihrer Wirkſamkeit. Sie
vertreiben einander nicht ganz aus der Seele, aber ſie
vertreiben einander, ſo zu ſagen, aus ihren naͤchſten
Stellen von der Seele, von dem Platze der leichtern
Reproducibilitaͤt weg, wo die thaͤtige Kraft am leichte-
ſten ſich auf ſie verwenden kann. Denn nicht jede Vor-
ſtellung, die in uns vorhanden iſt, kann in jedem Zu-
ſtande und unter jeden Umſtaͤnden unmittelbar reprodu-
cirt werden. Hiezu iſt es erfoderlich, daß ſie mit den
unmittelbar gegenwaͤrtigen in einer naͤhern Verbindung
ſtehe, oder ſelbſt darunter gehoͤre. Die menſchliche
Freyheit iſt in allen Hinſichten endlich und einge-
ſchraͤnkt.

XIV.
Von den Folgen der Freyheit in den freyen Hand-
lungen ſelbſt.

Wer Freyheit beſitzet, beſitzet wahre reelle Vermoͤ-
gen, und zwar mehrere neben einander. Von
der Freyheit haͤngt auch die Moralitaͤt des freyen We-
ſens ab, und beides iſt ein Ausfluß, der in der Selbſt-
thaͤtigkeit der Weſen ſeine Quelle hat. Selbſtthaͤtig-
keit iſt zwar fuͤr ſich allein keine Freyheit, und giebt den
Weſen, die ſie beſitzen, fuͤr ſich allein keine moraliſche
Natur. Aber wenn die Selbſtthaͤtigkeit erhoͤhet und
ausgedehnet wird, und alſo mehrere gleichzeitige Thaͤ-
tigkeiten nach mehrern Seiten, und in verſchiedenen
Richtungen hin, entſtehen, ſo wird ein ſolches ſelbſt-
thaͤtiges Weſen ein freyes Weſen, wenn es Vorſtellun-
gen von Handlungen aufnimmt, und dieſe durch ſeine
innere Selbſtmacht reproduciren kann.

Zunaͤchſt begreift man daraus, warum freye Hand-
lungen in einem hoͤhern Verſtande dem handelnden We-

ſen
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0154" n="124"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b"><hi rendition="#aq">XII.</hi> Ver&#x017F;uch. Ueber die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit</hi></fw><lb/>
wie unter&#x017F;chiedene Aktionen &#x017F;elb&#x017F;t. Die Men&#x017F;chen&#x017F;eele<lb/>
hat eine einge&#x017F;chra&#x0364;nkte Spha&#x0364;re ihrer Wirk&#x017F;amkeit. Sie<lb/>
vertreiben einander nicht ganz aus der Seele, aber &#x017F;ie<lb/>
vertreiben einander, &#x017F;o zu &#x017F;agen, aus ihren na&#x0364;ch&#x017F;ten<lb/>
Stellen von der Seele, von dem Platze der leichtern<lb/>
Reproducibilita&#x0364;t weg, wo die tha&#x0364;tige Kraft am leichte-<lb/>
&#x017F;ten &#x017F;ich auf &#x017F;ie verwenden kann. Denn nicht jede Vor-<lb/>
&#x017F;tellung, die in uns vorhanden i&#x017F;t, kann in jedem Zu-<lb/>
&#x017F;tande und unter jeden Um&#x017F;ta&#x0364;nden unmittelbar reprodu-<lb/>
cirt werden. Hiezu i&#x017F;t es erfoderlich, daß &#x017F;ie mit den<lb/>
unmittelbar gegenwa&#x0364;rtigen in einer na&#x0364;hern Verbindung<lb/>
&#x017F;tehe, oder &#x017F;elb&#x017F;t darunter geho&#x0364;re. Die men&#x017F;chliche<lb/>
Freyheit i&#x017F;t in allen Hin&#x017F;ichten endlich und einge-<lb/>
&#x017F;chra&#x0364;nkt.</p>
        </div><lb/>
        <div n="2">
          <head><hi rendition="#aq">XIV.</hi><lb/>
Von den Folgen der Freyheit in den freyen Hand-<lb/>
lungen &#x017F;elb&#x017F;t.</head><lb/>
          <p><hi rendition="#in">W</hi>er Freyheit be&#x017F;itzet, be&#x017F;itzet wahre reelle Vermo&#x0364;-<lb/>
gen, und zwar mehrere neben einander. Von<lb/>
der Freyheit ha&#x0364;ngt auch die Moralita&#x0364;t des freyen We-<lb/>
&#x017F;ens ab, und beides i&#x017F;t ein Ausfluß, der in der Selb&#x017F;t-<lb/>
tha&#x0364;tigkeit der We&#x017F;en &#x017F;eine Quelle hat. Selb&#x017F;ttha&#x0364;tig-<lb/>
keit i&#x017F;t zwar fu&#x0364;r &#x017F;ich allein keine Freyheit, und giebt den<lb/>
We&#x017F;en, die &#x017F;ie be&#x017F;itzen, fu&#x0364;r &#x017F;ich allein keine morali&#x017F;che<lb/>
Natur. Aber wenn die Selb&#x017F;ttha&#x0364;tigkeit erho&#x0364;het und<lb/>
ausgedehnet wird, und al&#x017F;o mehrere gleichzeitige Tha&#x0364;-<lb/>
tigkeiten nach mehrern Seiten, und in ver&#x017F;chiedenen<lb/>
Richtungen hin, ent&#x017F;tehen, &#x017F;o wird ein &#x017F;olches &#x017F;elb&#x017F;t-<lb/>
tha&#x0364;tiges We&#x017F;en ein freyes We&#x017F;en, wenn es Vor&#x017F;tellun-<lb/>
gen von Handlungen aufnimmt, und die&#x017F;e durch &#x017F;eine<lb/>
innere Selb&#x017F;tmacht reproduciren kann.</p><lb/>
          <p>Zuna&#x0364;ch&#x017F;t begreift man daraus, warum <hi rendition="#fr">freye</hi> Hand-<lb/>
lungen in einem ho&#x0364;hern Ver&#x017F;tande dem handelnden We-<lb/>
<fw place="bottom" type="catch">&#x017F;en</fw><lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[124/0154] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit wie unterſchiedene Aktionen ſelbſt. Die Menſchenſeele hat eine eingeſchraͤnkte Sphaͤre ihrer Wirkſamkeit. Sie vertreiben einander nicht ganz aus der Seele, aber ſie vertreiben einander, ſo zu ſagen, aus ihren naͤchſten Stellen von der Seele, von dem Platze der leichtern Reproducibilitaͤt weg, wo die thaͤtige Kraft am leichte- ſten ſich auf ſie verwenden kann. Denn nicht jede Vor- ſtellung, die in uns vorhanden iſt, kann in jedem Zu- ſtande und unter jeden Umſtaͤnden unmittelbar reprodu- cirt werden. Hiezu iſt es erfoderlich, daß ſie mit den unmittelbar gegenwaͤrtigen in einer naͤhern Verbindung ſtehe, oder ſelbſt darunter gehoͤre. Die menſchliche Freyheit iſt in allen Hinſichten endlich und einge- ſchraͤnkt. XIV. Von den Folgen der Freyheit in den freyen Hand- lungen ſelbſt. Wer Freyheit beſitzet, beſitzet wahre reelle Vermoͤ- gen, und zwar mehrere neben einander. Von der Freyheit haͤngt auch die Moralitaͤt des freyen We- ſens ab, und beides iſt ein Ausfluß, der in der Selbſt- thaͤtigkeit der Weſen ſeine Quelle hat. Selbſtthaͤtig- keit iſt zwar fuͤr ſich allein keine Freyheit, und giebt den Weſen, die ſie beſitzen, fuͤr ſich allein keine moraliſche Natur. Aber wenn die Selbſtthaͤtigkeit erhoͤhet und ausgedehnet wird, und alſo mehrere gleichzeitige Thaͤ- tigkeiten nach mehrern Seiten, und in verſchiedenen Richtungen hin, entſtehen, ſo wird ein ſolches ſelbſt- thaͤtiges Weſen ein freyes Weſen, wenn es Vorſtellun- gen von Handlungen aufnimmt, und dieſe durch ſeine innere Selbſtmacht reproduciren kann. Zunaͤchſt begreift man daraus, warum freye Hand- lungen in einem hoͤhern Verſtande dem handelnden We- ſen

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/154
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 124. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/154>, abgerufen am 22.12.2024.