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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

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XII. Versuch. Ueber die Selbstthätigkeit
schlechthin unmöglich und unthunlich ist, so sey auch
jenes unmöglich durch die Natur eines jeden handeln-
den und sich selbst bestimmenden Wesens, es mag seine
Kraft eingeschränkt und endlich, oder unendlich und
eine Allmacht seyn.

Es ist aus dem obigen nunmehr sehr begreiflich,
daß wir so viele Vermögen uns zu bestimmen zugleich
besitzen können, als wir verschiedene Vorstellungen von
Handlungen in uns haben, auf welche wir in demselbi-
gen Augenblicke wirken können, und in einigem Grade
wirken. Diese gleichzeitige Wirkung auf solche entge-
gengesetzte Vorstellungen kann so weit gehen, daß ent-
gegenstehende Neigungen daraus werden, gewisse An-
lagen sich zu entschließen, dergleichen wir oft genug in
uns gewahrnehmen, besonders alsdenn, wenn wir sagen,
daß wir nicht einig mit uns selbst werden können.

Nun ist aber freylich hiebey noch eine wichtige Frage
zurück. Wenn gleich das Vermögen nicht zu wollen
eben so gut vorhanden ist, als das Vermögen zu wollen,
wie die Pression nach der einen Seite in dem gedruckten
Wasser mit einer Pression nach der andern zugleich be-
stehet: muß denn nicht doch das eine Vermögen zu dem
Entgegengesetzten von dem, was geschieht, wegfallen,
oder doch wenigstens geschwächt werden, in dem Au-
genblicke, wenn die Aktion erfolget? Jch antworte:
dieß geschieht wohl da, wo nur allein die erste Selbst-
bestimmung des Willens in unserer Gewalt war, nicht
aber die folgenden Theile der Handlung. So geschieht
es bey den Körpern. Die gespannte Feder druckt auf
beide entgegenstehende Flächen, von denen sie geklem-
met wird, gleich stark. Aber sobald sie nach Einer
Seite hin Freyheit bekommt, sich auszudehnen, so ver-
mindert sich der Druck gegen die andere, und verschwin-
det endlich, und mit ihm zugleich das Vermögen, nach
dieser Seite hin zu wirken. Etwas ähnliches geht bey

dem

XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
ſchlechthin unmoͤglich und unthunlich iſt, ſo ſey auch
jenes unmoͤglich durch die Natur eines jeden handeln-
den und ſich ſelbſt beſtimmenden Weſens, es mag ſeine
Kraft eingeſchraͤnkt und endlich, oder unendlich und
eine Allmacht ſeyn.

Es iſt aus dem obigen nunmehr ſehr begreiflich,
daß wir ſo viele Vermoͤgen uns zu beſtimmen zugleich
beſitzen koͤnnen, als wir verſchiedene Vorſtellungen von
Handlungen in uns haben, auf welche wir in demſelbi-
gen Augenblicke wirken koͤnnen, und in einigem Grade
wirken. Dieſe gleichzeitige Wirkung auf ſolche entge-
gengeſetzte Vorſtellungen kann ſo weit gehen, daß ent-
gegenſtehende Neigungen daraus werden, gewiſſe An-
lagen ſich zu entſchließen, dergleichen wir oft genug in
uns gewahrnehmen, beſonders alsdenn, wenn wir ſagen,
daß wir nicht einig mit uns ſelbſt werden koͤnnen.

Nun iſt aber freylich hiebey noch eine wichtige Frage
zuruͤck. Wenn gleich das Vermoͤgen nicht zu wollen
eben ſo gut vorhanden iſt, als das Vermoͤgen zu wollen,
wie die Preſſion nach der einen Seite in dem gedruckten
Waſſer mit einer Preſſion nach der andern zugleich be-
ſtehet: muß denn nicht doch das eine Vermoͤgen zu dem
Entgegengeſetzten von dem, was geſchieht, wegfallen,
oder doch wenigſtens geſchwaͤcht werden, in dem Au-
genblicke, wenn die Aktion erfolget? Jch antworte:
dieß geſchieht wohl da, wo nur allein die erſte Selbſt-
beſtimmung des Willens in unſerer Gewalt war, nicht
aber die folgenden Theile der Handlung. So geſchieht
es bey den Koͤrpern. Die geſpannte Feder druckt auf
beide entgegenſtehende Flaͤchen, von denen ſie geklem-
met wird, gleich ſtark. Aber ſobald ſie nach Einer
Seite hin Freyheit bekommt, ſich auszudehnen, ſo ver-
mindert ſich der Druck gegen die andere, und verſchwin-
det endlich, und mit ihm zugleich das Vermoͤgen, nach
dieſer Seite hin zu wirken. Etwas aͤhnliches geht bey

dem
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[120/0150] XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit ſchlechthin unmoͤglich und unthunlich iſt, ſo ſey auch jenes unmoͤglich durch die Natur eines jeden handeln- den und ſich ſelbſt beſtimmenden Weſens, es mag ſeine Kraft eingeſchraͤnkt und endlich, oder unendlich und eine Allmacht ſeyn. Es iſt aus dem obigen nunmehr ſehr begreiflich, daß wir ſo viele Vermoͤgen uns zu beſtimmen zugleich beſitzen koͤnnen, als wir verſchiedene Vorſtellungen von Handlungen in uns haben, auf welche wir in demſelbi- gen Augenblicke wirken koͤnnen, und in einigem Grade wirken. Dieſe gleichzeitige Wirkung auf ſolche entge- gengeſetzte Vorſtellungen kann ſo weit gehen, daß ent- gegenſtehende Neigungen daraus werden, gewiſſe An- lagen ſich zu entſchließen, dergleichen wir oft genug in uns gewahrnehmen, beſonders alsdenn, wenn wir ſagen, daß wir nicht einig mit uns ſelbſt werden koͤnnen. Nun iſt aber freylich hiebey noch eine wichtige Frage zuruͤck. Wenn gleich das Vermoͤgen nicht zu wollen eben ſo gut vorhanden iſt, als das Vermoͤgen zu wollen, wie die Preſſion nach der einen Seite in dem gedruckten Waſſer mit einer Preſſion nach der andern zugleich be- ſtehet: muß denn nicht doch das eine Vermoͤgen zu dem Entgegengeſetzten von dem, was geſchieht, wegfallen, oder doch wenigſtens geſchwaͤcht werden, in dem Au- genblicke, wenn die Aktion erfolget? Jch antworte: dieß geſchieht wohl da, wo nur allein die erſte Selbſt- beſtimmung des Willens in unſerer Gewalt war, nicht aber die folgenden Theile der Handlung. So geſchieht es bey den Koͤrpern. Die geſpannte Feder druckt auf beide entgegenſtehende Flaͤchen, von denen ſie geklem- met wird, gleich ſtark. Aber ſobald ſie nach Einer Seite hin Freyheit bekommt, ſich auszudehnen, ſo ver- mindert ſich der Druck gegen die andere, und verſchwin- det endlich, und mit ihm zugleich das Vermoͤgen, nach dieſer Seite hin zu wirken. Etwas aͤhnliches geht bey dem

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Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/150>, abgerufen am 23.11.2024.