Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777.

Bild:
<< vorherige Seite

und Freyheit.
entgegengesetzter Handlungen nur eine Art von Kollision
seyn, die bey endlichen Kräften vorkommen könnte.
Jch würde mich nicht wundern, wenn man dieß be-
hauptet und auf eine ähnliche Art jeden Widerspruch
in den Handlungen für bloße Relation in Hinsicht auf
die Kraft, welche handelt, erkläret hätte, wie man es
von dem Widerspruche der Jdeen gesaget, und dadurch
in der That den Grundsatz des Widerspruchs, insoferne
solcher ein objektivischer Grundsatz unserer Erkenntniß
seyn soll, geläugnet hat. Man sehe aber nach, was
ich anderswo *) hierüber weitläuftiger gesagt habe, so
wird es einleuchten, daß auch hier ein großer Unter-
schied sey zwischen bloß verschiedenen Handlungen,
die eine Kraft ihrer Einschränkung wegen nicht auf ein-
mal verrichten kann, wie ein Mensch nicht zugleich zur
rechten und zur linken Hand hingehen, und sich an meh-
reren Orten gegenwärtig machen kann; und zwischen
Handlungen, die sich ihrer Natur nach wider-
sprechen,
und sich einander aufheben, wie jene nur
in Hinsicht auf die eingeschränkte Kraft es thun. Ein
Wesen, das zugleich das nämliche wollen und nicht
wollen, dasselbige zugleich verrichten und unterlassen soll-
te, müßte die Jdee von der Aktion des Wollens in der
Maße gegenwärtig haben, als es erfodert wird, wenn
die Selbstbestimmung der Kraft auf sie erfolgen soll,
und zugleich sie nicht in dieser Maße vor sich haben;
sie also reproduciren und auch nicht reproduciren, son-
dern sie zurückhalten, zugleich sich nach ihr bestimmen,
und sich nicht nach ihr bestimmen. Dieß ist ein ähn-
liches Erfoderniß, als wenn eine Denkkraft zugleich ei-
nen Gedanken haben und auch nicht haben soll. Und
da ist es offenbar, daß, so wie dieß letztere nicht bloß in
Beziehung auf ein gewisses denkendes Wesen, sondern

schlecht-
*) Siebenter Versuch IV.
H 4

und Freyheit.
entgegengeſetzter Handlungen nur eine Art von Kolliſion
ſeyn, die bey endlichen Kraͤften vorkommen koͤnnte.
Jch wuͤrde mich nicht wundern, wenn man dieß be-
hauptet und auf eine aͤhnliche Art jeden Widerſpruch
in den Handlungen fuͤr bloße Relation in Hinſicht auf
die Kraft, welche handelt, erklaͤret haͤtte, wie man es
von dem Widerſpruche der Jdeen geſaget, und dadurch
in der That den Grundſatz des Widerſpruchs, inſoferne
ſolcher ein objektiviſcher Grundſatz unſerer Erkenntniß
ſeyn ſoll, gelaͤugnet hat. Man ſehe aber nach, was
ich anderswo *) hieruͤber weitlaͤuftiger geſagt habe, ſo
wird es einleuchten, daß auch hier ein großer Unter-
ſchied ſey zwiſchen bloß verſchiedenen Handlungen,
die eine Kraft ihrer Einſchraͤnkung wegen nicht auf ein-
mal verrichten kann, wie ein Menſch nicht zugleich zur
rechten und zur linken Hand hingehen, und ſich an meh-
reren Orten gegenwaͤrtig machen kann; und zwiſchen
Handlungen, die ſich ihrer Natur nach wider-
ſprechen,
und ſich einander aufheben, wie jene nur
in Hinſicht auf die eingeſchraͤnkte Kraft es thun. Ein
Weſen, das zugleich das naͤmliche wollen und nicht
wollen, daſſelbige zugleich verrichten und unterlaſſen ſoll-
te, muͤßte die Jdee von der Aktion des Wollens in der
Maße gegenwaͤrtig haben, als es erfodert wird, wenn
die Selbſtbeſtimmung der Kraft auf ſie erfolgen ſoll,
und zugleich ſie nicht in dieſer Maße vor ſich haben;
ſie alſo reproduciren und auch nicht reproduciren, ſon-
dern ſie zuruͤckhalten, zugleich ſich nach ihr beſtimmen,
und ſich nicht nach ihr beſtimmen. Dieß iſt ein aͤhn-
liches Erfoderniß, als wenn eine Denkkraft zugleich ei-
nen Gedanken haben und auch nicht haben ſoll. Und
da iſt es offenbar, daß, ſo wie dieß letztere nicht bloß in
Beziehung auf ein gewiſſes denkendes Weſen, ſondern

ſchlecht-
*) Siebenter Verſuch IV.
H 4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0149" n="119"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#b">und Freyheit.</hi></fw><lb/>
entgegenge&#x017F;etzter Handlungen nur eine Art von Kolli&#x017F;ion<lb/>
&#x017F;eyn, die bey endlichen Kra&#x0364;ften vorkommen ko&#x0364;nnte.<lb/>
Jch wu&#x0364;rde mich nicht wundern, wenn man dieß be-<lb/>
hauptet und auf eine a&#x0364;hnliche Art jeden Wider&#x017F;pruch<lb/>
in den Handlungen fu&#x0364;r bloße Relation in Hin&#x017F;icht auf<lb/>
die Kraft, welche handelt, erkla&#x0364;ret ha&#x0364;tte, wie man es<lb/>
von dem Wider&#x017F;pruche der Jdeen ge&#x017F;aget, und dadurch<lb/>
in der That den Grund&#x017F;atz des Wider&#x017F;pruchs, in&#x017F;oferne<lb/>
&#x017F;olcher ein objektivi&#x017F;cher Grund&#x017F;atz un&#x017F;erer Erkenntniß<lb/>
&#x017F;eyn &#x017F;oll, gela&#x0364;ugnet hat. Man &#x017F;ehe aber nach, was<lb/>
ich anderswo <note place="foot" n="*)">Siebenter Ver&#x017F;uch <hi rendition="#aq">IV.</hi></note> hieru&#x0364;ber weitla&#x0364;uftiger ge&#x017F;agt habe, &#x017F;o<lb/>
wird es einleuchten, daß auch hier ein großer Unter-<lb/>
&#x017F;chied &#x017F;ey zwi&#x017F;chen <hi rendition="#fr">bloß ver&#x017F;chiedenen</hi> Handlungen,<lb/>
die eine Kraft ihrer Ein&#x017F;chra&#x0364;nkung wegen nicht auf ein-<lb/>
mal verrichten kann, wie ein Men&#x017F;ch nicht zugleich zur<lb/>
rechten und zur linken Hand hingehen, und &#x017F;ich an meh-<lb/>
reren Orten gegenwa&#x0364;rtig machen kann; und zwi&#x017F;chen<lb/><hi rendition="#fr">Handlungen, die &#x017F;ich ihrer Natur nach wider-<lb/>
&#x017F;prechen,</hi> und &#x017F;ich einander aufheben, wie jene nur<lb/>
in Hin&#x017F;icht auf die einge&#x017F;chra&#x0364;nkte Kraft es thun. Ein<lb/>
We&#x017F;en, das zugleich das na&#x0364;mliche wollen und nicht<lb/>
wollen, da&#x017F;&#x017F;elbige zugleich verrichten und unterla&#x017F;&#x017F;en &#x017F;oll-<lb/>
te, mu&#x0364;ßte die Jdee von der Aktion des Wollens in der<lb/>
Maße gegenwa&#x0364;rtig haben, als es erfodert wird, wenn<lb/>
die Selb&#x017F;tbe&#x017F;timmung der Kraft auf &#x017F;ie erfolgen &#x017F;oll,<lb/>
und zugleich &#x017F;ie nicht in die&#x017F;er Maße vor &#x017F;ich haben;<lb/>
&#x017F;ie al&#x017F;o reproduciren und auch nicht reproduciren, &#x017F;on-<lb/>
dern &#x017F;ie zuru&#x0364;ckhalten, zugleich &#x017F;ich nach ihr be&#x017F;timmen,<lb/>
und &#x017F;ich nicht nach ihr be&#x017F;timmen. Dieß i&#x017F;t ein a&#x0364;hn-<lb/>
liches Erfoderniß, als wenn eine Denkkraft zugleich ei-<lb/>
nen Gedanken haben und auch nicht haben &#x017F;oll. Und<lb/>
da i&#x017F;t es offenbar, daß, &#x017F;o wie dieß letztere nicht bloß in<lb/>
Beziehung auf ein gewi&#x017F;&#x017F;es denkendes We&#x017F;en, &#x017F;ondern<lb/>
<fw place="bottom" type="sig">H 4</fw><fw place="bottom" type="catch">&#x017F;chlecht-</fw><lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[119/0149] und Freyheit. entgegengeſetzter Handlungen nur eine Art von Kolliſion ſeyn, die bey endlichen Kraͤften vorkommen koͤnnte. Jch wuͤrde mich nicht wundern, wenn man dieß be- hauptet und auf eine aͤhnliche Art jeden Widerſpruch in den Handlungen fuͤr bloße Relation in Hinſicht auf die Kraft, welche handelt, erklaͤret haͤtte, wie man es von dem Widerſpruche der Jdeen geſaget, und dadurch in der That den Grundſatz des Widerſpruchs, inſoferne ſolcher ein objektiviſcher Grundſatz unſerer Erkenntniß ſeyn ſoll, gelaͤugnet hat. Man ſehe aber nach, was ich anderswo *) hieruͤber weitlaͤuftiger geſagt habe, ſo wird es einleuchten, daß auch hier ein großer Unter- ſchied ſey zwiſchen bloß verſchiedenen Handlungen, die eine Kraft ihrer Einſchraͤnkung wegen nicht auf ein- mal verrichten kann, wie ein Menſch nicht zugleich zur rechten und zur linken Hand hingehen, und ſich an meh- reren Orten gegenwaͤrtig machen kann; und zwiſchen Handlungen, die ſich ihrer Natur nach wider- ſprechen, und ſich einander aufheben, wie jene nur in Hinſicht auf die eingeſchraͤnkte Kraft es thun. Ein Weſen, das zugleich das naͤmliche wollen und nicht wollen, daſſelbige zugleich verrichten und unterlaſſen ſoll- te, muͤßte die Jdee von der Aktion des Wollens in der Maße gegenwaͤrtig haben, als es erfodert wird, wenn die Selbſtbeſtimmung der Kraft auf ſie erfolgen ſoll, und zugleich ſie nicht in dieſer Maße vor ſich haben; ſie alſo reproduciren und auch nicht reproduciren, ſon- dern ſie zuruͤckhalten, zugleich ſich nach ihr beſtimmen, und ſich nicht nach ihr beſtimmen. Dieß iſt ein aͤhn- liches Erfoderniß, als wenn eine Denkkraft zugleich ei- nen Gedanken haben und auch nicht haben ſoll. Und da iſt es offenbar, daß, ſo wie dieß letztere nicht bloß in Beziehung auf ein gewiſſes denkendes Weſen, ſondern ſchlecht- *) Siebenter Verſuch IV. H 4

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/149
Zitationshilfe: Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 119. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/149>, abgerufen am 27.11.2024.