unsere Selbstthätigkeit im Handeln das Parallel zu der Dichtkraft in den Vorstellungen. Die Vorstellungen von Aktionen sind, so zu sagen, in den Thätigkeitsfibern, was die Vorstellungen von Sachen in den Empfindungs- fibern sind, und beide erregen sich wechselseitig. Wie jede neue Vorstellung, die keine Phantasie und keine Produktion der schaffenden Dichtkraft ist, aus einer neuen hinzugekommenen Empfindung ihren Ursprung hat; eben so gehöret auch jedwede Aktion, die nicht bloß eine Reproduktion einer andern vorhergegangenen ist, und auch aus solchen nicht zusammengesetzet, keinesweges zu denen, zu welchen wir uns selbst bestimmt haben, und selbst bestimmet haben können. Es sind dergleichen vielmehr neue instinktartige Ausbrüche unserer Kraft, wozu die Seele durch einen gewissen Eindruck leidentlich bestimmt worden ist.
9.
Eine Hauptfrage ist noch diese: "Kann denn auch "in demselbigen Moment, in welchem wir uns selbst "bestimmen, das Vermögen, uns selbst anders zu be- "stimmen, vorhanden seyn?" Können solche zwey entgegengesetzte Vermögen zugleich neben einander beste- hen? Jedes enthält eine gewisse Aktion auf eine Vor- stellung. Kann man zugleich auf die Vorstellung von der Handlung wirken, solche wieder hervorziehen, gegen- wärtig erhalten, und auch zugleich das nämliche bey der entgegengesetzten vornehmen?
Die Erfahrung lehret, daß, so oft wir zwischen Wollen und Nichtwollen hin und her wanken, auch die beiden Jdeen von den einander entgegenstehenden Aktio- nen in uns mit einander abwechseln. Und wenn uns zuweilen mitten indem wir uns entschließen, die Vor- stellung von dem Gegentheil einfällt, oder gar noch nach- her, wenn wir schon mit der Ausführung unsers Ent-
schlusses
XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
unſere Selbſtthaͤtigkeit im Handeln das Parallel zu der Dichtkraft in den Vorſtellungen. Die Vorſtellungen von Aktionen ſind, ſo zu ſagen, in den Thaͤtigkeitsfibern, was die Vorſtellungen von Sachen in den Empfindungs- fibern ſind, und beide erregen ſich wechſelſeitig. Wie jede neue Vorſtellung, die keine Phantaſie und keine Produktion der ſchaffenden Dichtkraft iſt, aus einer neuen hinzugekommenen Empfindung ihren Urſprung hat; eben ſo gehoͤret auch jedwede Aktion, die nicht bloß eine Reproduktion einer andern vorhergegangenen iſt, und auch aus ſolchen nicht zuſammengeſetzet, keinesweges zu denen, zu welchen wir uns ſelbſt beſtimmt haben, und ſelbſt beſtimmet haben koͤnnen. Es ſind dergleichen vielmehr neue inſtinktartige Ausbruͤche unſerer Kraft, wozu die Seele durch einen gewiſſen Eindruck leidentlich beſtimmt worden iſt.
9.
Eine Hauptfrage iſt noch dieſe: „Kann denn auch „in demſelbigen Moment, in welchem wir uns ſelbſt „beſtimmen, das Vermoͤgen, uns ſelbſt anders zu be- „ſtimmen, vorhanden ſeyn?‟ Koͤnnen ſolche zwey entgegengeſetzte Vermoͤgen zugleich neben einander beſte- hen? Jedes enthaͤlt eine gewiſſe Aktion auf eine Vor- ſtellung. Kann man zugleich auf die Vorſtellung von der Handlung wirken, ſolche wieder hervorziehen, gegen- waͤrtig erhalten, und auch zugleich das naͤmliche bey der entgegengeſetzten vornehmen?
Die Erfahrung lehret, daß, ſo oft wir zwiſchen Wollen und Nichtwollen hin und her wanken, auch die beiden Jdeen von den einander entgegenſtehenden Aktio- nen in uns mit einander abwechſeln. Und wenn uns zuweilen mitten indem wir uns entſchließen, die Vor- ſtellung von dem Gegentheil einfaͤllt, oder gar noch nach- her, wenn wir ſchon mit der Ausfuͤhrung unſers Ent-
ſchluſſes
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XII. Verſuch. Ueber die Selbſtthaͤtigkeit
unſere Selbſtthaͤtigkeit im Handeln das Parallel zu der
Dichtkraft in den Vorſtellungen. Die Vorſtellungen
von Aktionen ſind, ſo zu ſagen, in den Thaͤtigkeitsfibern,
was die Vorſtellungen von Sachen in den Empfindungs-
fibern ſind, und beide erregen ſich wechſelſeitig. Wie
jede neue Vorſtellung, die keine Phantaſie und keine
Produktion der ſchaffenden Dichtkraft iſt, aus einer neuen
hinzugekommenen Empfindung ihren Urſprung hat;
eben ſo gehoͤret auch jedwede Aktion, die nicht bloß eine
Reproduktion einer andern vorhergegangenen iſt, und
auch aus ſolchen nicht zuſammengeſetzet, keinesweges zu
denen, zu welchen wir uns ſelbſt beſtimmt haben, und
ſelbſt beſtimmet haben koͤnnen. Es ſind dergleichen
vielmehr neue inſtinktartige Ausbruͤche unſerer Kraft,
wozu die Seele durch einen gewiſſen Eindruck leidentlich
beſtimmt worden iſt.
9.
Eine Hauptfrage iſt noch dieſe: „Kann denn auch
„in demſelbigen Moment, in welchem wir uns ſelbſt
„beſtimmen, das Vermoͤgen, uns ſelbſt anders zu be-
„ſtimmen, vorhanden ſeyn?‟ Koͤnnen ſolche zwey
entgegengeſetzte Vermoͤgen zugleich neben einander beſte-
hen? Jedes enthaͤlt eine gewiſſe Aktion auf eine Vor-
ſtellung. Kann man zugleich auf die Vorſtellung von
der Handlung wirken, ſolche wieder hervorziehen, gegen-
waͤrtig erhalten, und auch zugleich das naͤmliche bey der
entgegengeſetzten vornehmen?
Die Erfahrung lehret, daß, ſo oft wir zwiſchen
Wollen und Nichtwollen hin und her wanken, auch die
beiden Jdeen von den einander entgegenſtehenden Aktio-
nen in uns mit einander abwechſeln. Und wenn uns
zuweilen mitten indem wir uns entſchließen, die Vor-
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Tetens, Johann Nicolas: Philosophische Versuche über die menschliche Natur und ihre Entwickelung. Bd. 2. Leipzig, 1777, S. 116. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/tetens_versuche02_1777/146>, abgerufen am 22.12.2024.
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